IASLonline NetArt: Tipps


Thomas Dreher

Die Misere der Kunst
frichter


Frichter (Frank Richter *1963) präsentiert unter dem Titel "Die Misere der Kunst" einen Umfragebogen, und eine vorläufige Auswertung.


Beschreibung

Die Umfrage stellt vier vorgegebene Antworten zur Wahl. Genauer: Jede Frage wird in vier alternative Fragen aufgeteilt, von denen der User eine als zutreffende Aussage ausweist, wenn er für sie durch einen Klick votiert. Diese vier Alternativen sind vorbelastet, da in Prozentzahlen die Präferenzen der vorangegangenen User angegeben sind. Die Angaben über den Zwischenstand der Umfrage sind keineswegs unproblematisch, da in den letzten vier Monaten bei acht der sechzehn Fragen die Unterschiede zwischen den häufig und selten angeklickten Antworten größer wurden: Die Fixierung der späteren User auf die meist angeklickten Alternativen ist unübersehbar. Gelegentlich kamen auch zwischen den erst- und zweithäufigst angeklickten Möglichkeiten Platzwechsel (Frage 5, 8 und 12) und verringerte Abstände (Frage 1, 6 und 11) vor. Nur ein einziges Mal wurde aus der vorher am häufigsten gewählten Alternative die am seltensten bevorzugte Antwort (Frage 12). 1

Frichter verringert in seiner Auswertung des Zeitraums zwischen April und Juni 2001 die vier Alternativen der Umfrage auf zwei. Die Fragen werden nicht wiederholt, sondern Statements repräsentieren die beiden Antworten und die Anzahl derer, die für sie votierten. Lediglich an den Anteilen der Votierenden lässt sich erkennen, dass nur ein Teil der Voten vorgestellt wird. Frichter berücksichtigt in seinem Resümee nicht die beiden meist gewählten oder die am häufigsten und die am seltensten gewählte Alternative, sondern wählt beliebig. Nur bei Frage 9, bei der 72% für eine Bewusstseinserweiterung plädierten, beschränkt sich der Netzkünstler auf die Vorstellung einer Antwort.

Am Ende des Resümees jeder Frage erscheint der Satz "Teilen Sie diese Position?" ohne Angabe, welche der beiden vorgestellten Positionen bejaht / geteilt oder abgelehnt werden kann. Ebenso wenig werden Usern Möglichkeiten der Mitteilung einer Antwort angeboten. Als nächstes folgt lediglich ein Button mit der Aufschrift "weiter", der zum Resümee eines weiteren Teils der Frage führt.

Die Statements wiederholen weder die Nummern der Fragen, die sie resümieren, noch entspricht die Reihenfolge der Auswertung der Fragen. User können das Ende des Resümees beim Browsen durch die Seiten mit der Auswertung jeder Frage nur erkennen, wenn sie sich die erste Seite der Auswertung gemerkt haben, da zu ihr der "weiter"-Button der letzten Seite der Auswertung zurückführt. Die Nummerierung der Webadressen der Seiten von "md-1" bis "md-16" referiert zwar auf die 16 Nummern der Umfrage, doch wird der Zusammenhang zwischen Frage und Antwort verdeckt, da die Programmierung eine Browsereinstellung bewirkt, welche die Adressen nicht anzeigt.

Nicht nur verschwindet im Browser (Internet Explorer, Netscape) die Webadressen anzeigende Zeile, sondern auch das Menü mit Befehlen zur Vor- und Rücknavigation: Der User wird zum Gebrauch des "weiter"-Buttons gezwungen und gelangt so in eine Schleife ohne Ausweg. Wenn er das Fenster schließt, kommt eine zu Homepage und Kapiteln von fristers Website führende Seite, die sich gleichzeitig mit der Einführungsseite in "Die Misere der Kunst" öffnet. (Die vorgegebene Browsereinstellung lässt sich umgehen, wenn die Webseiten der Auswertung über die Liste des "Verlaufs" noch einmal angeklickt werden.)

Die Hintergrundebene besteht aus Textzeilen, die Serien aus Vornamen von Usern, Namen von Ländern und je einem der Begriffe "Real, Think, Imagine, Relative" auflisten. Diese Begriffe tauchen bereits auf der Einführungsseite der Auswertung auf. Die Einführungsseite zeigt ein Tortendiagramm. Die Scheibe ist in vier Bereiche geteilt und jedem Teil ist ein Teil der Frage "Wie real, imaginär, denkbar oder relativ ist Kunst heute?" zugeordnet. Die Größen der Scheibenteile entsprechen Prozentzahlen: Bis 7.8.2001 votierten 50% für "denkbar", 28% für "real", 16% für "relativ" und 6% für "imaginär". Gegenüber dem Zwischenstand vom 3.5.2001, der damals noch ohne Prozentangaben angezeigt wurde, hat sich die Aufteilung der Scheibe von fast gleich großen Stücken zu Gunsten von "denkbar" und zu Ungunsten von "imaginär" verschoben.

Da über der Scheibe der Titel "Die Misere der Kunst" in grossen Lettern erscheint, können User den um die Scheibe verteilten Fragetext "Wie real / imaginär / denkbar / relativ ist..." auch auf "Die Misere der Kunst" statt auf "...ist die Kunst heute?" bezogen haben, als sie einen Teil der Scheibe anklickten und sich auf diese Weise bereits an der Umfrage beteiligt haben. Während heute der Klick auf einen Teil der Scheibe zur Auswertung führt, erschien zuvor die Umfrage. 2


Deutung

Frichters Umfrage- und Auswertungssystem lässt zweierlei Deutungen zu:

  1. Der Autor weist mittels eines Modells auf die Gefahr, die massenmediale Inszenierung von Umfragen auf das Internet und seine für Datenerhebungen besonders geeigneten Informationssysteme zu übertragen. Der User wird zum sich selbst entfremdeten Klickgespenst, wenn er, ohne es erkennen zu können, schon an Umfragen teilnimmt, sobald er Oberflächen auf Linkfunktionen absucht.
  2. Der Autor führt die Veränderungen der Meinungen als Datenstrom vor, auf den jeder User nach eigenen Präferenzen reagieren kann. Aus den Veränderungen der Relationen zwischen Mehr- und Minderheiten lassen sich keine Wertungen ableiten, die Anlässe zur Kritik geben könnten.

Die erste Ansicht legt eine Medienkritik nahe, die zweite favorisiert "anything goes". Die erste und die zweite Interpretation lassen sich auf folgender Grundlage kombinieren:

  • Wenn Regeln für die Programmierung von Webseiten die Freiheit zum folgenlosen individuellen Browsen und Klicken garantieren, dann kann eine versteckte Auswertung von Klickaktionen 3 bereits als Verstoss gegen diesen Regelrahmen aufgefasst werden.

Frichters Umfrage verwertet die Klicks der User zu keinem anderen Zweck, als den, Usern Userentscheidungen vorzuführen, und liefert damit ein Beispiel einer Kunst, die via Modellkonstruktion Relationen zwischen Medienmöglichkeiten und Mediengebrauch problematisiert. Solche Modelle wenden instrumentalisierenden Mediengebrauch nicht an, sondern führen ihn exemplarisch vor: Auch bei frichters Umfrage sind keine versteckten politischen oder ökonomischen Interessen erkennbar.

Einerseits führt frichters Umfrage die Beeinflussung von Meinungen vor: Umfragen eruieren nicht nur Meinungen, sondern erzeugen Meinungen, die wiederum neue Umfragen zur Folge haben können. 4 Andererseits provozieren viele Alternativen von frichters Umfrage auch zu der Frage, was gewonnen ist, wenn Präferenzen von anderen Usern bekannt werden, die nicht öffentlichkeitsrelevant sind, sondern allein die Freiheit jedes Users tangieren, sich willkürlich zu entscheiden. Diese Freiheit besteht eben auch darin, nicht auf Mehrheiten achten zu müssen.

Leider kann frichter mit seinem Modell auf die Grenze zwischen Meinungen, die relevant für die Kunstöffentlichkeit sind, und subjektiven Entscheidungen zwischen Vorlieben nur verweisen. Er kann jedoch eine Grenzlinie zwischen Öffentlichkeit und Privatem weder vorführen noch explizieren: Auch in der nicht gelösten Problematik, wie diese Grenze zu thematisieren wäre, kann "Die Misere der Kunst" erkannt werden.



Dr. Thomas Dreher
Schwanthalerstr. 158
D-80339 München.

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Übrigens: Drehers Homepage bietet zahlreiche kunstkritische Texte, u.a. zur Konzeptuellen Kunst und Intermedia Art.


Fußnoten

1 Zusammengefasst werden Unterschiede, die Ausdrucke der Umfrage vom 3.5.2001 und 7.8.2001 aufweisen. Der erste Ausdruck gibt bei Frage 15 nur die Prozentzahlen von zwei Alternativen an, da zwei Alterantiven mit dem Seitenumbruch verschwanden. Deshalb muss dieser Vergleich zweier Ausdrucke eine Frage unberücksichtigt lassen. Frichter hat auf Anfragen bislang nicht geantwortet. zurück

2 So können auch Betreiber von Websites mit Angeboten für e-commerce das Verhalten ihrer Kunden eruieren: Jeder Klick kann zu einem Beitrag zur Erfassung von Vorlieben werden. zurück

3 Als aktuellen Modellfall siehe den Bericht von Cyveillance über den Einsatz von Web-Bugs, der in den letzten drei Jahren alarmierend stieg: Web-Bugs werden von Dritten (Werbeagenturen etc.) auf privaten Websites, die den von Providern kostenlos angebotenen Speicherplatz nutzen, lanciert, um unerkannt Daten über das Userverhalten zu sammeln, auszuwerten und an Kunden weiter zu reichen (Schwartz, John: `Web Bugsī Are Tracking Use of Internet. In: The New York Times, 14.8.2001). zurück

4 Brisanz bekommt frichters Umfrage, wenn seine eigenen Werke auf Netzseiten Beliebtheitsskalen ausgesetzt werden. Frichter hat sein Webprojekt hypersexxx dem Bewertungssystem von net-art00 unterzogen, und landete auf der Beliebtheitsskala der User im Mittelfeld. Wenn die Beobachtung von NetArt nach Art der Hitlisten geregelt wird, warum dann nicht den Erfolg von NetArt – wie in Pop Musik üblich – für sich sprechen lassen? Und auf eine Kritik verzichten, die auf Aspekte der Präsentationsform verweist, die sich erst in intensiverer Auseinandersetzung erschliessen, und die über die Zusammenhänge zwischen diesen Aspekten in einer Weise reflektiert, die hinterfragbar ist, weil sie im Hinblick auf theoretische Ansätze zur NetArt systematisiert, statt spekuliert. zurück

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