IASL online Forum. JAEGER: Schriftsteller als Intellektuelle

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Geschichte und Kritik der Intellektuellen

Leitung: Britta Scheideler


Georg Jäger
Schriftsteller als Intellektuelle

3. Der Schriftsteller als Intellektueller


Als "innerer Kreis" der Intellektuellen gelten vielfach die schöpferischen Künstler und die Philosophen, "sie leben für und durch die Ausübung der Intelligenz". 61

Der Intellektuelle par excellence, das war bislang der Schriftsteller: als Universalbewußtsein, als freies Subjekt stellte er sich jenen gegenüber, die nichts weiter waren als Kompetenzen im Dienst des Staates oder des Kapitals (Ingenieure, Beamte, Lehrer). 62
Historisch sind es insbesondere Schriftsteller gewesen, an denen sich die Diskussion um den Begriff des Intellektuellen ausrichtete: Voltaire, Diderot und die Enzyklopädisten, Hugo, Zola, Sartre in Frankreich, dem "Paradies der Intellektuellen" 63; Lessing, Heine, Heinrich Mann, Böll oder Grass in Deutschland.

Da Schriftsteller und Philosophen der Aufklärung als Prototypen des Intellektuellen gelten, wird als Intellektueller häufig angesehen, wer als ein "auf eigene Faust Reflektierender und Räsonierender" "in der Tradition der historischen Aufklärung steht", 64 und das Unternehmen der Intellektuellen somit als Projekt der Aufklärung. Die französischen Aufklärer, die jakobinischen Schriftsteller in Deutschland – die im Zuge der 68er Bewegung wiederentdeckt wurden – und die Jungdeutschen avancierten zu Vorbildfiguren des oppositionellen Schriftstellers. Die Exilierung, der mißliebige Autoren ausgesetzt waren, wurde im 20. Jahrhundert zu einem Gruppenschicksal und damit zu einem identitätsstiftenden Moment im Selbstbewußtsein moderner Schriftsteller. 65

Als Musterfall eines "freischwebenden Intellektuellen" entstand der freie Schriftsteller im 18. Jahrhundert. 66 Durch die Trennung vom humanistischen "Gelehrten" und der Aufgabe seiner institutionellen Verortung (als Beamter im Bildungswesen oder als Funktionär im Dienste des Staates und der Kirche) wurde seine berufliche Stellung und soziale Lage problematisch und unsicher; durch den Geltungsverlust der Rhetorik, der Grundlage der gelehrten Schreibkultur, kam es zu einer Art von Entprofessionalisierung des freien Schriftstellers. Seit der Genieästhetik ist für ihn eine enge Bindung von "Beruf" (im Sinne einer Erwerbsquelle) und "Berufung" charakteristisch. Da der schriftstellerische Schaffensprozeß durch Merkmale wie Genie, Eingebung, Inspiration, Intuition oder Kreativität charakterisiert wird, gewinnt der Schriftsteller eine ungewöhnliche produktive Freiheit und soziale Unabhängigkeit, die ihn zum "Gewissen der Zeit" prädestiniert: "er setzt ihr Werte und Ziele". 67

In dieser historischen Umbruchssituation bilden sich prototypische Schriftstellerrollen heraus, deren Spannweite zwei Namen andeuten: Klopstock als der "Priesterdichter", der seiner Gemeinde Künder und Führer ist; Lessing als der Kritiker, der die Diskussion sucht und in das öffentliche Gespräch katalytisch eingreift.

Die Namen Klopstock und Lessing stehen für zwei Varianten der Argumentation, die von einem besonderen Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache – als sein ureigenes Arbeitsmittel – ausgeht. Der Terminus der >literarischen Intelligenz< hebt zum einen "das verbindende Element der Schriftsteller in dem gemeinsamen Glauben an die Priorität geistiger Werte und die eigene Berufung zur Bildung, Läuterung usw. des Menschen und der Gesellschaft" hervor und betont damit die "Funktion der öffentlichen Weltauslegung und Sinnstiftung". 68

Eine kritische Wendung nimmt die Argumentation, sobald sie auf die Aufgabe des Schriftstellers als Beobachter und Zeuge, der ohne Rücksichten aufzuschreiben hat, was er sieht, oder auf seine Verantwortung für die Reinheit, Lauterkeit und >Wahrheit< der Sprache abhebt. Den ersten Punkt hebt Christoph Hein hervor, der in Thersites, "der alles beschimpft, weil er nichts übersehen kann", das "Urbild des modernen Intellektuellen" erkennt:

Er hat zu betrachten und zu analysieren, das schließt Haltung und Verantwortung ein, und er muß vermelden, was er erfuhr. Er hat rücksichtslos zu berichten, das ist eigentlich schon alles. 69
Da jede Macht die Rede für ihre Zwecke instrumentalisiert, hat der sprachbewußte Autor ihr grundsätzlich zu mi&azlig;trauen:
Es kann daher keine andere korrekte Haltung von Schriftstellern zur politischen Macht geben als Kritik und Opposition. 70
Weil sprachliche Sinnstiftung hierbei immer im Verdacht von Ideologie und Manipulation steht, ergeben sich Anknüpfungspunkte für (auch experimentelle) künstlerische Verfahrensweisen, die auf Offenlegung und Destruktion symbolischer Ordnungsbildungen abzwecken.


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3.1 Die Geburt des Schrifstellers als Intellektueller in der Dreyfus-Affäre

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1. Zielsetzung und Leitlinien der Argumentation
2. Zur Phänomenologie des Intellektuellen
2.1 Die Definition des Intellektuellen ist die Diskussion um seine Definition
2.2 Der Intellektuelle als Spezialist für das Wort
2.3 Der Intellektuelle als Sprecher allgemeinverbindlicher Werte
2.4 Der kritische Intellektuelle als Moralist
3.2 Zu Funktion und Rolle der literarischen Intelligenz in Deutschland nach 1945
3.2.1 DDR
3.2.2 BRD
4. "Intellektuellendämmerung?"
Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen

(Anschrift des Autors, Copyright)
5. Literatur


Anmerkungen

Die mit der Angabe "in diesem Band" zitierten Aufsätze finden sich in dem Sammelband Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg.

61 Raymond Aron: Die Entfremdung der Intellektuellen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B XVI/57, 24.April 1957, 255-265. Hier S.256. Es handelt sich um einen Auszug aus Arons Werk: Das Opium der Intellektuellen. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1957. zurück

62 Michel Foucault: Der sogenannte Linksintellektuelle. Gespräch mit M.Fontana. In: alternative 118, 1978, S.74-85. Hier S.81. zurück

63 Aron: Die Entfremdung der Intellektuellen, S.260. zurück

64 Walter Dirks: Wer ist ein Intellektueller? Aus einem Vortrag. In: Der katholische Gedanke 4 (1966), S.98 f. Hier S.98. zurück

65 Für diese Formulierung und weitere Anregungen danke ich Ernst Fischer. zurück

66 Vgl. zusammenfassend meinen Artikel "Autor" in: Literatur Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden. Hg. von Volker Meid. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1992, S.66-72. zurück

67 Werner Mahrholz: Die Wesenszüge des schriftstellerischen Schaffensprozesses. In: Die geistigen Arbeiter. Tl.1. Freies Schriftstellertum und Literaturverlag. Hg. von Ludwig Sinzheimer (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd.152, Tl.1). München, Leipzig: Duncker & Humblot 1922, S.57-73. Hier S.65 f. Zit.n. Britta Scheideler: Zur Sozialgeschichte der Schriftsteller: Professionalisierung und Berufsstandspolitik zwischen Wilhelminismus und Weimarer Republik. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 46 (1997), S.12. zurück

68 Scheideler: Zur Sozialgeschichte der Schriftsteller, S.13. Zur Definition und Soziologie der literarischen Intelligenz insgesamt S.10-18. zurück

69 Hein: "Ich hielte gern Friede und Ruhe ...", S.9. Für die Überlebenden des Holocaust, für die Schreiben "kein Beruf, sondern eine Berufung, ein Muß" ist, vgl. Elie Wiesel: Den Frieden feiern. Mit e. Vorrede von Václav Havel (Herder Spektrum 4019) Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1991, S.21: "Nur die Rolle des Zeugen hat mich unwiderstehlich angezogen." zurück

70 Fritz Beer: Eine unbequeme Existenz. In: F.B. / Uwe Westphal (Hgg.): Exil ohne Ende, S.21-34. Hier S.30. Beer ist Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. zurück

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