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Karl Eibl

Strukturierte Nichtwelten

Zur Biologie der Poesie[1]



Sozialgeschichte der Literatur bewegt sich in mehr oder weniger weiten Kreisen um die Zentralfrage nach der Funktion von Literatur unter bestimmten historischen Bedingungen. Die Frage nach der Funktion wird aber erst dann radikal gestellt, wenn man auch nach den möglichen biologischen Funktionen, den möglichen anthropologischen Bezugsproblemen sowie den möglichen funktionalen Äquivalenzen fragt und dann wieder in die historisch-jeweiligen Bedingungsgefüge zurücklenkt. Den vielen Unterscheidungsversuchen zwischen Tier und Mensch ließe sich hinzufügen: Der Mensch ist das Wesen, das dichtet. - Weshalb/Wozu treiben Menschen so seltsame Dinge?

Der Stand der Humanethologie ist derzeit etwa dieser: Bildende Kunst habe "wertvermittelnde Bedeutung", stehe "im Dienst der Vermittlung sittlicher Werte", auch Dichtung könne "Werte vermitteln und bekräftigen", spreche "angeborene ethische Beziehungsschemata" an, diene darüber hinaus "der Vermittlung kultureller Werte" (Gruppenbindung, Heimatbindung), als "Mittel der [Braut-] Werbung"...[2] Das ist noch etwas wenig. Das unmittelbare 'Prodesse' war noch nie problematisch; schwieriger wird es schon beim 'Delectare'; und wie steht es um Kafka, Trakl oder Musil, die sich nur noch auf sehr oberflächliche Weise mit solchen Kategorien fassen lassen? Haben sie sich von der Biologie der Menschengattung abgelöst?

Ausdrücklich wird im Folgenden mehrmals etwas prätentiös von 'Poesie' die Rede sein. Damit wird keine Wertprämisse eingeführt, sondern es soll signalisiert werden, daß nicht die auf Anhieb als funktional durchschaubare Literatur im Zentrum steht, sondern die auf Anhieb eher als dysfunktional, zumindest als sperrig erscheinende; denn gerade sie ist eine Herausforderung für die biologische Perspektive, die allemal nach 'Zwecken' oder 'Funktionen' fragt. Gleichwohl wird der Begriffsinhalt von 'Poesie' über die drei exemplarisch genannten Namen hinaus vorerst nicht definiert, sondern bewußt im Vagen belassen. Denn es könnte sein, daß dieser Alltagsbegriff nur der Abstraktion äußerlicher Oberflächenphänomene zu verdanken ist und weder hinsichtlich der Genese noch hinsichtlich der Funktion sachangemessen abstrahiert ist.[3] Es geht darum, einen mit biologischen Kategorien faßbaren Funktionsbereich ausfindig zu machen, in dem das 'Poesie' Genannte (möglicherweise nur als ein bestimmter Typus von Dichtung, möglicherweise unter verschiedenen historischen Bedingungen austauschbar mit anderen Phänomenen) als Problemlösungsaktivität angesiedelt werden kann.

Der Weg der Argumentation muß erst durch einiges Gestrüpp geführt werden. Schon der angehende Mediziner Friedrich Schiller mußte in seinem VERSUCH üBER DEN ZUSAMMENHANG DER TIERISCHEN NATUR DES MENSCHEN MIT SEINER GEISTIGEN vorweg die Polarisierungen wegräumen, die dieses Thema anscheinend unweigerlich hervorruft: "... es ist gewiß der Wahrheit nichts so gefährlich, als wenn einseitige Meinungen einseitige Widerleger finden."[4] Man kann die Kontroversen zwischen 'Biologisten' und 'Kulturisten' nicht ignorieren, weil [3]die bis auf Talkshow-Ebene herumschwirrenden Argumente und Vorurteile allemal das Vorverständnis der Detailargumentation beeinflussen. Deshalb werden zunächst auch alte und neue Schlachtfelder besichtigt, aber nur damit dort der Faden aufgenommen werden kann, der dann abseits vom Kampfgetümmel weiterzuspinnen ist.

Insgesamt wird die Argumentation folgende Schritte umfassen:

1. Blick ins Museum: Behaviorismus und Trieblehren

2. Blick aufs derzeitige Schlachtfeld: 'Sociobiology'

3. Biologische Evolution unter dem Selektionsdruck von Kultur

4. Das Bezugsproblem: Die Entdeckung der Nichtwelt

5. Strukturierung der Nichtwelt (a): Biologische Bedingungen

6. Strukturierung der Nichtwelt (b): Simultanthematisierung

7. Die ungelösten Probleme und das Ganze.




1. Blick ins Museum: Behaviorismus und Trieblehren

Eine "tabula rasa", ein "empty cabinet", meinte John Locke, sei die menschliche Seele, ehe sie mit Erfahrung gefüllt wird, und er wurde damit zum Stammvater der Milieutheorie des Verhaltens, speziell des Behaviorismus. Methodische Behavioristen - im Unterschied zu weltanschaulichen - beschränken sich aus Gründen der methodischen Konsequenz auf den Generalaspekt ihrer Vorgehensweise, den sie nicht mit zusätzlichen Annahmen belasten wollen. Damit kann man sogar bis zur Imitation naturwissenschaftlicher Exaktheit vorstoßen. Gegen eine methodische Bornierung des Blicks ist grundsätzlich nichts einzuwenden, so lange sie nur dazu dient, die Leistungsfähigkeit des gewählten Aspekts zu steigern. Problematisch wird das jedoch, wenn ein solcher Teilaspekt verallgemeinert und zum Gesamt-Menschenbild ausgeweitet wird - zum weltanschaulichen Behaviorismus, wie er gut 40 Jahre lang in den USA herrschende Doktrin war und von da aus in die empirischen Humanwissenschaften in Europa vordrang.

Der 'Kulturismus' mag zwar unserer Selbsteinschätzung als 'freier', von der Biologie emanzipierter Kultur- und Vernunftwesen schmeicheln und "das Herz zur Tugend .. erwärmen",[5] so lange er in belletristischer Unverbindlichkeit bleibt; aber er ist, konsequent zu Ende gedacht wie im radikalen Behaviorismus, verbunden mit dem Gedanken einer beliebigen Modellierbarkeit des Menschen.[6] 'Frei' sind dann allenfalls die mächtigen Erzieher. Es ist kein purer Zufall, daß der Behaviorismus in der stalinistischen Sowjetunion einen unglei[4]chen Bruder hatte: Die dort favorisierte biologische Doktrin war der Lamarckismus, die Lehre, daß die Erbsubstanz durch die Umwelt direkt beeinflußt werden kann. Sie legte den Gedanken nahe, daß man durch geeignete politische Erziehungsmaßnahmen innerhalb weniger Generationen einen auch genetisch 'sozialistischen' Menschen herangezüchten könnte. Auch hier ließ sich die Biologie zu Gunsten der Kultur außer Kraft setzen und die Allmacht der Erzieher begründen.[7]

Man mache sich also nichts vor: Das Menschenbild des konsequenten 'Kulturismus' ist das eines reinen Dressurwesens. Gerade zentrale Wertbegriffe der conditio humana wie 'Freiheit', 'Würde', 'Verantwortung' lassen sich in Kultur allein nicht begründen. Sie beruhen vielmehr auf einer innerpersonalen Differenz, die sich gerade aus der bio-kulturellen Zweistämmigkeit des menschlichen Verhaltens und dem mit ihr verbundenen ständigen Abstimmungs- und Reflexionsbedarf ergibt und die unter anderem auch die Poesie aus sich hervortreibt.

Die Gestalt, in der die Biologie schon länger von den Kulturwissenschaften berücksichtigt wurde und auch ins Alltagsgespräch Eingang gefunden hat, ist die [5]Vorstellung von einem Antagonimus von 'Trieben' und Kultur. Das ist freilich ziemlich schlechte Biologie.[8] Angeboren seien uns 'Triebe', und diese würden dann unter Kulturbedingungen domestiziert, kanalisiert, sublimiert oder ganz einfach unterdrückt. Diese Vorstellung findet ihre empirische Plausibilität darin, daß wir uns ständig irgendwelchen aus unserem 'Inneren' kommenden Gefühlsappellen ausgesetzt finden und daß wir alle ein bißchen darunter leiden, daß wir nicht alles tun können/dürfen, was wir gerne möchten. Nun ist gegen "Trieb" als Redensart nichts einzuwenden, wenn damit nur angeborene Verhaltensdispositionen gemeint sind. Unseligerweise verknüpft sich mit diesem Wort aber seit langem die Vorstellung von einer seelischen "Triebkraft", von einem hypothetischen Reservoir an Energie, aus dem das Verhalten gespeist wird.

Vor allem das Freudsche Triebkonzept und seine Filiationen erfreuen sich noch immer einigen Wohlwollens, wohl deshalb, weil hier die uralte mythische Vorstellung von einer vis vitalis mit dem - für literarisch Gebildete - neuesten Stand der Technik, der Dampfmaschine, verknüpft wird. Trieb - Libido, später auch Todestrieb - ist bei Freud eine universelle Antriebskraft, die durchaus nicht nur bildlich, sondern wörtlich als Lebens-'Energie' angesehen wird. Deshalb kann auf sie auch umstandslos der Satz von der Erhaltung der Energie angewandt werden. Mit dem Einsetzen des "verhängnisvollen Kulturprozesses"[9] werde die Libido zu einer "zielgehemmten" Regung (S. 95), es entstehe die Notwendigkeit, für die "Quantitäten psychischer Energie" eine "zweckmäßige Verteilung" (S. 96) zu finden. Ähnlich waltet der Todestrieb,gleichfalls nach dem Erhaltungssatz:[10] Jedes "Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen", werde "vom Über-Ich übernommen" und steigere dessen Aggression gegen das Ich. (S. 115) Gerade was dem Freudschen Trieb-Begriff seine Anschaulichkeit verleiht, die Energie-Metapher, wird zur Denkfalle, wenn sie zum Energie-Modell ausgeweitet wird.

Auch dieses Modell hat einen ungleichen Bruder, die Aggressionstheorie von Konrad Lorenz. Spontan, d. h. ohne auslösenden Reiz, im Inneren der Lebewesen entstehende 'aktionsspezifische Energie' werde gestaut und suche nach der Gelegenheit für eine Handlungssequenz, deren Endhandlung eine Entladung dieser Energie ermöglicht. Da unter Kulturbedingungen bestimmte instinktive Hemmungen, besonders die Tötungshemmung, nicht mehr richtig funktionieren, wird es zu einer speziellen Aufgabe der Kultur, dieses Energiepotential angemessen zu verwalten. Ein scheinbarer Belegfall für die Lorenzsche These ist das 'Appetenzverhalten': Das Tier 'sucht' gleichsam von sich aus, ohne erkennbaren Auslöser, nach einem Reiz, der ein bestimmtes erbkoordiniertes Verhalten auslöst. Es sucht also, so könnte man unter der Voraussetzung des Energie-Konzepts sagen, nach einer Gelegenheit zur Triebentladung.[11] Aber diese Suche ist zumeist selbst schon von einem Reiz ausgelöst, mag dieser auch, wie der Hunger, endogener Art sein. Vollends die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz, 'Ruheappetenz', endet nicht mit einer Triebentladung, sondern mit Einschlafen.

Eher schon kann man vermuten, daß bei bestimmten Verhaltensweisen, insbesondere beim Spiel, Erregung gesucht wird.[12] Das ist etwas fundamental anderes: Nicht bedient sich eine vorgängig aufgebaute 'Energie' eines Verhaltens[6]programms, damit sie sich schließlich am Ende des Programms entladen kann, sondern der Ablauf des Programms selbst wird als 'lustvoll' empfunden und deshalb aufgesucht. (Vgl. dazu Abschnitt 5.) - Unter Biologen jedenfalls ist die Lorenzsche Triebstau-Theorie heute eher eine Außenseiterposition. "Die aktionsspezifische Energie erwies sich als modernes Phlogiston und das psychohydraulische Modell ... als untauglich, die Bereitschafts- und Zustandsänderungen im Tier adäquat abzubilden."[13]

Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Triebmodelle, etwa daß der Mensch mit einer Erbsünde behaftet und sein Trachten sündhaft von Jugend auf sei (wogegen u. a. Askese, Prügel oder häufiges kaltes Duschen helfen), die Lehre von den 'Passiones', die von der Vernunft gebändigt werden müssen, von den "Antriebsüberschüssen" und der "Reizüberflutung" usw. Die in moderne Wissenschaftssprache transformierte Minimalform solcher Lehren mag Donald T. Campbell vertreten. Ausgehend vom Konzept der Individual-Fitness und vom genetischen Wettbewerb der Individuen konstatiert er einen universellen "biologischen Egoismus". Alle Kultur sei demnach ein darüber errichteter Regelmechanismus, der diesen Egoismus durch altruistische Normen zügelt. Zwischen den Extrempositionen eines allein biologischen Optimums und eines rigoros altruistischen Normensystems, die für sich genommen beide extrem dysfunktional wären, pendle sich auf diese Weise ein Zustand im Umkreis des bio-sozialen Optimums ein.[14]

Mit etwas Phantasie kann man hier, nach Locke, zwei weitere Klassiker der Gesellschaftstheorie wiedererkennen, Hobbes[15] und Rousseau,[16] die trotz sonstiger Unterschiede und Wertungen beide einen Antagonismus von Natur und [7]Kultur konstatieren. Fehlt eigentlich nur noch die aristotelische Position, daß der Mensch das vernünftigste aller Tiere und 'von Natur aus' zur Geselligkeit disponiert sei.


2. Blick aufs derzeitige Schlachtfeld: 'Sociobiology'

Auch diese 'aristotelische' Auffassung findet nun eine biologische Stütze. Es waren vor allem die Arbeiten von William D. Hamilton[17] und John Maynard Smith,[18] die eine kleine Revolution in der Verhaltensbiologie verursachten. 1964, so kann man kurz sagen, wurde die "Gesamteignung" ("inclusive fitness") entdeckt: Leitend für die Evolution ist der Reproduktionserfolg der einzelnen Individuen einschließlich der Einflüsse, die das Individuum auf den Reproduktionserfolg seiner Verwandten hat, die ja zum Teil die gleichen Gene besitzen. Zwei Kinder der Schwester oder des Bruders sind hinsichtlich des Reproduktionserfolgs so wertvoll wie ein eigenes. Und das bedeutet, daß sich auch 'altruistisches' Verhalten genetisch festigen kann (freilich auf der Basis eines 'Egoismus der Gene'). Wenn ein Individuum sich opfert oder auf eigene Reproduktion verzichtet, um damit einer hinreichenden Anzahl verwandter Individuen zum Überleben zu verhelfen, sichert es damit auch die Reproduktion seiner eigenen Gene, unter anderem auch die des 'Opferungsgens'. Mit dem Konzept der Gesamteignung können Phänomene erklärt werden, die auf der Basis der Individual-Fitness nur Verwunderung auslösten und nur über den Pauschalbegriff der Arterhaltung aufgefangen werden konnten. Mit Hilfe mathematischer Kosten-Nutzen-Modelle konnte man nun ermitteln, unter welchen Voraussetzungen welches Verhalten die größere Chance einer genetischen Stabilisierung besitzt. Und hier schien auch der Anknüpfungspunkt zu liegen für Schlüsse auf die biologischen Voraussetzungen menschlicher Sozietäten. Edward O. Wilson faßte 1975 die einschlägigen biologischen Kenntnisse zusammen unter dem Namen "Sociobiology" - der zunächst nur die biologischen Grundlagen tierischen Sozialverhaltens bezeichnete.[19] Nur das 27. und letzte Kapitel von Wilsons Buch stellte Vermutungen über die biologischen Grundlagen menschlicher Gesellschaften an und verursachte ein Getöse, dessen Nachhall bis heute anhält. 'Sociobiology' zeigte, daß die biologischen Wurzeln des menschlichen Sozialverhaltens im Nepotismus liegen[20] - und schien damit [8]weniger eine biologische Erklärung altruistischen Verhaltens als ein Plädoyer für Rassismus, Nationalismus usw. zu sein.

Es sei hier verzichtet auf ein Nachzeichnen der "Debatte", in der manches allzu forsche Wort der Biologisten, manche allzu schreckhafte Reaktion der Kulturisten und die ideologische Konstellation der siebziger Jahre gelegentlich zu Getümmel und insgesamt zu viel Publicity führten.[21] Anknüpfungspunkt für die weiteren Überlegungen sei vielmehr ein scheinbarer Konsens: Kulturisten wie Biologisten betonen bis zum Überdruß immer wieder die Illegitimität eines Schlusses vom Sein aufs Sollen. Das wäre eine gute Voraussetzung für eine leidenschaftslose Diskussion, in der die Wissenschaften vom Menschen ihre Verknüpfungspunkte suchen könnten. Aber trotz dieses scheinbaren Konsens hat sich die Kontroverse gerade in der Frage der Moralbegründung, die damit eigentlich aus der Debatte ausgeschlossen sein müßte, festgefahren.

Nun hat die Natur-Kultur-Dichotomie eine gewisse Eigendynamik, die immer wieder auf Wertungsimplikationen führt. Oft genug wird unter der "Natur" einer Sache das "Wesen" einer Sache verstanden, und das Verdikt des 'Widernatürlichen' gar ist geeignet, urtümliche Abwehrschauer zu wecken. Der Rekurs auf "Natur" als Legitimationsinstanz ist ein alter Topos in der Philosophiegeschichte und an Stammtischen. Auch die Suche nach einem "Naturrecht", das dem Positiven Recht oder der Tradition entgegenzusetzen oder zugrundezulegen sei, läßt sich bis in die griechische Antike verfolgen. Und die Rudimente von Geschichtsphilosophien, die einen glücklichen Zustand der Menschheit in einer vorkulturellen Urzeit erfanden, werden jedenfalls dann virulent und bekommen scheinbar ein wissenschaftliches Gesicht, wenn man den Jetztmenschen als unangepaßt an sein selbstgeschaffenes Milieu bezeichnet (mit der impliziten, doch nun einmal nicht befolgbaren, Aufforderung: Zurück in die Steinzeit). Mit dem bloßen Hinweis, daß man nicht vom Sein aufs Sollen zu schließen gedenke, ist angesichts einer solch starken konnotativen Besetzung wenig auszurichten.[22]

Überdies ist das generelle Verbot eines Schlusses vom Sein aufs Sollen etwas simpel und entspricht nicht der tatsächlichen Argumentationssituation. Man [9]sagt uns zwar nicht mehr, daß die "Natur" den Sieg des Stärkeren über den Schwächeren legitimiere. Statt dessen erhalten wir Ratschläge nach dem Muster, daß "eine Rücksichtnahme auf das Angeborene im Interesse einer möglichst frustrationsfreien Persönlichkeitsbildung zweckmäßig erscheint.[23] Auch das ist natürlich ein Schluß aus dem Sein, der, vorsichtig gesagt, zumindest ans Reich des Sollens heranreicht. Er ist jedoch grundsätzlich legitim. Er bedient sich nämlich eines "Brückenprinzips":[24] 'Sollen impliziert Können'. Es ist nicht sinnvoll, den Menschen etwas abzuverlangen, was sie überhaupt nicht können. Oder etwas weicher: 'Sollen impliziert ein möglichst frustrationsfreies Können'. Man sagt uns nicht, was wir sollen, sondern was wir nicht können, ohne dabei Schaden zu nehmen oder problematische Nebenfolgen in Kauf nehmen zu müssen. Insoweit bleibt die Humanethologie ganz im Rahmen dessen, was wissenschaftliche Information zur Anleitung rationaler Praxis leisten könnte. Es wäre ja auch albern, den Physikern darüber gram zu sein, daß sie ein perpetuum mobile für unmöglich erklären. - Damit aber verschiebt sich die Problematik hin zur Frage: Wissen die Biologen wirklich, was wir 'nicht können'?

Unter rein evolutionsbiologischen Gesichtspunkten ist die Benutzung eines Flugzeugs streng kontraindiziert. Wir 'können' nicht fliegen, denn wir sind stammesgeschichtlich niemals auf Fliegen hin selektiert worden. Fliegen ist eine 'widernatürliche' Handlung. Aber irgendwie geht es doch,[25] und manchen Leuten macht es sogar Spaß. Das Problem liegt darin, daß die Perspektive einer Einzelwissenschaft fast immer einseitig, selten mehrseitig und nie allseitig ist. Speziell die Verhaltensbiologie des Menschen gleicht einer Brücke, die vorerst ins Leere ragt, weil sie auf der anderen Seite, der Seite der Kulturwissenschaften, noch kein Widerlager gefunden hat. Das liegt nicht nur an der Ignoranz der Kulturwissenschaftler. Ein so töricht plärrender Titel wie "Biologie als Schicksal",[26] richtet mehr kommunikative Schäden an als drei 'evolutionskritische' Sammelbände.

Das Problem sei in actu vorgeführt am aktuellen Beispiel des Ethnozentrismus (worunter in den USA derzeit nahezu alles verstanden wird, was mit sozialer Diskriminierung zu tun hat, also z. B. auch Mann/Frau). Man hat in letzter Zeit mit ethologischen Argumenten davor gewarnt, die Ausländer-[10]Toleranz der Bevölkerung zu überfordern. Die Plastizität in dieser Hinsicht sei durch angeborene Xenophobie begrenzt, und es müsse deshalb bei einer Überstrapazierung mit unerwünschten Reaktionen gerechnet werden. So mag es sein, und gerade der soziobiologische Ansatz kann das stützen. Ein durchaus verantwortungsvoller Versuch, hier zu einer Überschau zu kommen, ist in einem Sammelband "The Sociobiology of Ethnozentrismus [27] unternommen worden. Allerdings drängt sich bei der Lektüre dieses Buches, sicher gegen den Willen von Herausgebern und Beiträgern, doch der Eindruck auf, daß der Ethnozentrismus oder 'die Biologie' unvermeidliches 'Schicksal' sei.[28] Die einseitige Perspektive kann man nicht dadurch kompensieren, daß man den Aufweis der biologischen Disposition um einige moralische und politische Appelle, Sonntagsreden, ergänzt. - Der Ansatz spart Kultur in doppelter Weise aus, sowohl als Definitor für auslösende Situationen als auch als Selektionsfaktor in der biologischen Stammesgeschichte des Menschen. Das erste ist eine legitime Spezialisierung, und hier müßte die Staffette von den Kulturwissenschaften übernommen werden, das zweite sollten die Biologen eigentlich selbst sehen.

Zum ersten Punkt: Die Grenzen der Plastizität sind nicht biologisch definierbar. Sie sind kulturell variabel. Daß in den ehemaligen britischen Kolonien 'Rasse' eine deutlich andere Rolle spielt als in den ehemaligen spanischen Kolonien, ist gewiß nicht genetisch bedingt. Je nach kulturell definierter Situation kann die in-group/out-group-Grenze geradezu beliebig gesetzt werden, hin zum Nachbardorf, zum Kommunismus, zu unvertrauten wissenschaftlichen Konzeptionen, zur anderen Generation, in der Science Fiction sogar zu den Extraterrestrischen, und man kann diese Grenzen auch auf eine zivilisierte Weise verwalten.

Denn, und das führt zum zweiten Punkt, es gibt auch Indizien für eine angeborene Xenophilie. Gerade im Sinne der Gesamtfitness kann es förderlich sein, die Gruppengrenzen nicht allzu fest zu verschließen. Mag sein, daß der Urmensch ein hochaggressives Wesen mit kannibalistischen Neigungen war (Genaues wissen wir nicht). Aber wenn er denn wirklich in Horden von ein paar Dutzend Leuten durch die Gegend gezogen ist, wäre er von Inzuchtdepression bedroht gewesen, wenn er nicht auch eine Disposition für den Umgang mit Fremden gehabt hätte; die Schnelligkeit der Entwicklung deutet sogar darauf hin, daß zumindest in deren entscheidenden Phasen ein recht intensiver Genaustausch stattgefunden hat.[29] Bei nichtmenschlichen Primaten ist das Verlassen [11]der Ursprungsgruppe mit dem Eintritt der Geschlechtsreife ein häufig beobachteter Vorgang. Die Weggabe von Töchtern an andere Gruppen ist auch ein Beitrag zur Verbreitung der eigenen Gene. Solcher Genaustausch ist unabdingbare Grundlage für die "rasche Diffusion neuer genetischer Problemlösungen".[30] Und hier muß nun der kulturelle Faktor hinzugedacht werden: Kann der genetische Austausch zwischen verschiedenen Gruppen verbunden werden mit kultureller Diffusion, mit dem Austausch von Waren und kulturellem Know-How,[31] dann wird er insgesamt zu einer hochadaptiven Einrichtung. Wir dürfen deshalb mit guten Gründen vermuten, daß es neben der angeborenen Xenophobie, wenn auch vielleicht in weit geringerem Ausmaß, auch eine ererbte Anlage zu einem Verhalten gibt, das man xenophil oder zumindest xenotrop nennen könnte und das kulturell ebenso flexibel und plastisch ist wie die Xenophobie. Es ist dann primär eine Frage der Situationsdefinition, welcher der beiden Gefühlsappelle abgerufen wird. - Auf solche Widersprüchlichkeiten der genetischen Dispositionen wird wieder zurückzukommen sein.


3. Biologische Evolution unter dem Selektionsdruck von Kultur

So lange man den biologischen Blick nur bis zum Schimpansen hebt, der mit einem Zweig im Termitenhügel angelt, hat man eine falsche Vorstellung von der genetischen Ausstattung des Menschen. Natürlich wissen das auch die Biologen.[32] Aber sie beachten es nicht immer. Vielleicht wirkt da ein kleiner Denkzwang des Vorher-Nachher, und ältere geschichtsphilosophische Vorstellungen von einem 'Naturzustand' des Menschen vor aller Kultur mögen das Ihre bei[12]getragen haben zu diesem Denkfehler: Intuitiv verfallen wir immer wieder in die Vorstellung, erst sei der Mensch entstanden und dann sei die Kultur hinzugekommen. Aber einen vorkulturellen Menschen gab es nicht. Hominisation und Kulturentstehung sind gleichzeitige Vorgänge. Wenn man das nicht berücksichtigt, ignoriert man sozusagen die entscheidenden zwei Drittel des menschlichen Gehirns. [33]

Erst wenn man sich diesen Sachverhalt strikt vor Augen hält, kann man das Rätsel erklären, weshalb beim Menschen alles ganz anders ist - und doch immer wieder überraschende Ähnlichkeiten durchschimmern. "Was die Entwicklung vorantrieb, wissen wir nicht. Sie war auf jeden Fall rasant. Vom Australopithecus trennen uns etwa 2 Millionen Jahre oder 100 000 Generationen. In dieser erstaunlich kurzen Zeit verdreifachte sich unter anderem unser Gehirngewicht, und aus einem aufrecht gehenden Affen mit einfachster materieller Kultur wurde der Homo sapiens der technischen Zivilisation."[34] Mir scheint, zumindest einen wichtigen Faktor kann man namhaft machen, der für die 'Rasanz' verantwortlich war und "die Entwicklung vorantrieb": Es war die positive Rückkoppelung mit Kultur.[35] Eher geläufig sind uns Vorgänge der negativen (kompensierenden) Rückkoppelung, wie etwa beim bekannten Thermostat-Beispiel: Die Meldung eines vom Sollwert abweichenden Istwertes führt zu einer Zurückregelung des Systems, so daß es stabil bleibt. So läßt sich die 'normale' Evolution begreifen: Mutationen, die nicht in ihre - innerorganismische oder äußere - Umwelt passen, werden (zusammen mit ihren Trägern) ausgemerzt. In Fällen positiver (kumulativer) Rückkoppelung aber wird die [13]Abweichung verstärkt. Das geschah beim Prozeß der menschlichen Stammesentwicklung:[36] Mit dem Entstehen von Kultur konnte der Mensch die Umwelt verändern, diese Veränderungen gingen ein in das Ensemble der Selektionfaktoren seiner Reproduktion, damit wuchs seine biologische Fähigkeit, die Umwelt kulturell zu verändern usw. In der Regel führt ein solcher Prozeß der positiven Rückkoppelung, wenn er nicht unterbrochen oder (hier vermutlich durch die Mutationsrate) gebremst wird, in eine Sackgasse und zum Festfahren oder zur Selbstzerstörung des Systems. Wir hatten sozusagen Glück,[37] daß er nur zu einer heftigen Beschleunigung der Evolution und einer drastischen Vergrößerung der Gehirnmasse und -komplexität und insgesamt zur Ausdifferenzierung eines Systems führte, das nun aus beidem, aus somatischen und exosomatischen Elementen besteht. Der Jetztmensch ist insofern kein Ergebnis 'natürlicher Zuchtwahl', sondern das Ergebnis bio-kultureller Zuchtwahl. Darüber, wie das im Einzelnen zugegangen ist und an welcher Stelle das System in diesen Zustand der Rückkoppelung geriet, ob das vielleicht sogar mehrmals geschah, können wir nur sehr unsichere Vermutungen anstellen.[38]

Zumindest können wir den beiden wichtigsten Veränderungstendenzen Namen geben: Neotenie (oder Pseudo-Neotenie) und Ausbau des Gehirns als "Lernorgan". Als Neotenie bezeichnet man das Beibehalten von Jugendeigenschaften auch im Erwachsenenalter. Wolf und Hund z. B. zeigen in der Jugend nahezu identisches Verhalten; im Erwachsenenalter unterscheiden sie sich sehr stark. Das rührt daher, daß Hunde, nach Wolfsmaßstäben, überhaupt nicht erwachsen werden. Evolutionstechnisch ist das ein vergleichsweise risikoarmer und deshalb rationeller Vorgang: Ohne irgendwelche Umbauten, die allemal mit hohen Verlustraten verbunden wären, braucht die Entwicklung einzelner Merkmale eines ansonsten voll funktionsfähigen Organismus nur an einer be[14]stimmten Stelle verzögert oder angehalten zu werden.[39] Allerdings sind Hunde nicht nur unreife Wölfe, Menschen nicht nur unreife Affen. Quasi zum Ausgleich sind sie um vieles lernfähiger als ihre wilden Verwandten. Auch bei wildlebenden Tieren gibt es eine Anpassung des Anteils von angeborenen Programmen zum Lernanteil an die Umwelt: Es ist sehr rationell, den auf Umweltvariablen bezogenen Teil der Verhaltenssteuerung von den starren Programmen zu trennen und in den Lernanteil auszulagern, und gerade Kosmopoliten wie Ratten oder Raben haben denn einen vergleichsweise hohen Lernanteil. Das läßt wiederum den Rückschluß zu, daß die Entwicklung des Menschen sich unter dem Selektiondruck starker Umweltveränderungen vollzog, klimatisch bedingter (immerhin vier Eiszeiten und sehr warme Zwischenzeiten mit entsprechend drastischen Folgen für die Ressourcenstruktur) oder selbsterzeugter (Kultur, Wanderungen). Wildlebende Tiere lernen freilich nur in der Jugend; das 'fertige' Tier lernt fast nichts mehr hinzu, es wird verhaltenssicher, aber 'dumm'. Nicht daß eine derartige Tendenz nicht auch am Menschen zu beobachten wäre. Aber im Vergleich mit dem Lernverhalten von Tieren kann man hier von einer Disposition zu lebenslangem Lernen und Erkunden sprechen.[40]

Um die Konsequenzen zu verdeutlichen, kann man wieder auf das Beispiel Xenophobie/Xenophilie zurückgreifen. Beide Programme widersprechen einander. Wahrscheinlich sind, ähnlich wie bei den Hormonen, viele, vielleicht sogar alle Verhaltensdispositionen im Erbgut auch durch einen Antagonisten [15]vertreten. Das Erkundungsverhalten hat ebenso eine genetische Disposition wie die Furcht vor Neuem, die Ortsbindung ebenso wie das Nomadentum, das Bedürfnis nach Nähe ebenso wie das nach Distanz zum Artgenossen. Das gilt schon für das Tier. Es hat Programme für Angriff, für Flucht, für Dominanz, für Unterwerfung usw.[41] Welches dieser Programme jeweils angeknipst wird, ist beim 'fertigen' Tier eine Frage der Reizkonstellation: der Situation. Aber bei Homo sapiens sapiens ist für die Definition von Situationen und damit für die Entscheidung zwischen Verhaltensprogrammen in hohem Maße die jeweilige Kultur zuständig. Man hat sich, humanistisch gebildet, gelegentlich über Eibl-Eibesfeldts Buchtitel "Der vorprogrammierte Mensch" lustig gemacht, weil das Wort "vorprogrammiert" eine Tautologie sei (etwa wie "Volksdemokratie"). Es ist aber etwas dran an diesem Wort. Tatsächlich handelt es sich weniger um Programme als um Vor-Programme.[42]

Die kulturelle Plastizität des Menschen ist in hohem Maße gerade durch die Widersprüchlichkeit solcher Vor-Programme bestimmt, die erst durch kulturelle Situationsdefinitionen als Programme abgerufen werden. Und auch das nur unvollständig. Denn die kognitive kulturelle Konstruktion der Welt samt den dazu gehörigen Handlungsrezepturen lassen sie bei den sichtbaren Handlungen zu einer Art Hintergrundsmusik werden, die zwar das motivationale Gefüge beeinflußt, aber nur in anomischen, kulturell nicht hinreichend geregelten Situationen in den Vordergrund drängt und dann gelegentlich sehr schrill wird. Die manchmal geäußerte Sorge, daß sich 99 % (?) der spezifisch menschlichen Entwicklung in der Altsteinzeit abgespielt haben, wir also primär an deren Verhältnisse angepaßt seien, ist zwar nicht ganz unberechtigt;[43] aber man sollte hinzufügen, daß es sich dabei nicht um eine Spezialisierung auf Steinzeitverhältnisse handelte, sondern um eine generelle Entspezialisierung durch das Zurückfahren der Programme auf unfertige Vor-Programme und um die forcierte Entwicklung von Lernprogrammen für variable kulturelle Komplet[16]tierungen. Diese Kombination schuf eine 'Präadaptation' der Gattung an die unterschiedlichsten, auch selbstgeschaffenen Milieus, nicht nur an das der Steinzeit - an viele 'mögliche Welten'.


4. Das Bezugsproblem: Die Entdeckung der Nichtwelt

Die Zweistämmigkeit des menschlichen Verhaltens, sein biokultureller Motivationszusammenhang, zwingt zur Kooperation von genetischen Dispositionen und kulturellen Definitionen.[44] Systemtheoretisch geprochen: Biologischer und kultureller Kooperator sind einander Umwelt.[45] Damit aber gerät eine fundamentale Differenz in die Person und ihr Erleben. Es ist nun z. B. die Frage möglich: Was macht der Reiz eigentlich, wenn er nicht da ist? Ständig müssen die Anschlußstellen der widersprüchlichen genetischen Kooperatoren mit denen der kulturellen Kooperatoren abgestimmt werden, und wie bei jeder Kooperation geht es dabei nicht konfliktlos zu. Hier liegt die - nicht generell definierbare, aber für die Subjekte aktuell wahrnehmbare - Grenzlinie einer doppelten Determination. Sie wirkt als ständige Aufforderung zur Selbstbeobachtung, begründet Reflexion. Im Extremfall müssen die genetische Person und die kulturelle Person nun sozusagen laufend Konferenzen miteinander abhalten, damit das Ich leidlich stabil bleibt. Die genetischen Kooperatoren sind unfertig und widersprüchlich, die kulturellen Kooperatoren sind unfest, immer wären auch andere möglich. Insofern ist die Lehre vom Über-Ich und vom Es, die vom Ich koordiniert werden, gar nicht so falsch, und ebenso die Geschichte vom Paradies, das verloren ging, weil jemand zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, besser: mußte. Seither haben wir das subjektive Gefühl von Entscheidungsfreiheit, nehmen innere Konflikte wahr, haben 'Bewußtsein'.[46] [17]Und unter bestimmten historischen Umständen, wenn auch noch die kulturellen Kooperatoren widersprüchlich werden, entsteht die Vorstellung des Meta-Ichs einer unauswechselbaren Individualität, einer einmaligen, aparten, mit keinem der beiden Kooperatoren identischen 'dritten Instanz' dahinter.

Die lebenslang anhaltende Präadaptation an mögliche Welten rückt die Kategorie der Möglichkeit unmittelbar und dauernd sichtbar an den Horizont aller aktuellen wirklichkeitskonstituierenden Vollzüge. Der Horizont schließt die Welt nicht ab, sondern deutet darauf hin, daß dahinter unbekanntes Anderes ist, etwas gar, dessen privilegierte Menschen wie Schamanen, Mystiker, Ek-statiker unmittelbar ansichtig werden können. Nachdem die traditionellen Grenzziehungen zwischen Tier und Mensch wie Werkzeuggebrauch, Sprache, Inzestvermeidung, sich als fragwürdig erwiesen haben, könnte man auf dieser Basis sagen: Gewiß nur der Mensch besitzt Modalverben (die Unterscheidungen von Können, Sollen, Dürfen, Wollen, Mögen nebst ihren Verneinungen), das Verbum "wissen" (und verwandte wie "vermuten", "glauben" usw.) und den Konjunktiv. Das sind sprachliche Mittel, die eine Differenz von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit ("ich kann dies tun, jenes nicht") und die Vergegenständlichung der eigenen selektiven Konstruktion der Welt ("ich weiß, daß") ausdrücken können und damit implizite immer auch auf andere Möglichkeiten verweisen. Die Grenze wird immer mitthematisiert und damit verfügbar gehalten. Auf dieser Basis bringt die Differenz von genetischem und kulturellem Kooperator einen grundsätzlich neuen Schalter ins Bewußtsein. Es ist der Schalter 'Ich könnte auch anders handeln' oder 'Die Welt könnte auch anders sein' oder 'Es gibt Unbekanntes', sozusagen ein Kontingenz- und Phantasie-Schalter. Ob und wie er betätigt wird, hängt dann wieder von der jeweiligen Kultur ab.

Zur weiteren Präzisierung des Sachverhalts sei noch ein etwas anderer Weg eingeschlagen, der über die Systemtheorie Luhmannscher Prägung führt. Bewußt wurde "Kultur" bisher nicht definiert. Soll man alles 'tradigenetische' Verhalten, im Gegensatz zum 'biogenetischen', als Kultur bezeichnen, also auch die 'Kultur' einer Affenpopulation, die gelernt hat, Süßkartoffeln im Fluß zu waschen? Oder soll man den Begriff für menschliche Kulturleistungen reservieren? Grenzziehungen in Übergangsbereichen sind ein verdrießliches und [18]unfruchtbares Geschäft. Es seien unter 'Kultur' einfach die nichtgenetisch codierten menschlichen Überzeugungssysteme verstanden, und zwar sowohl moralische wie kognitive und ästhetische Überzeugungen. Zu einer weiteren Präzisierung kommen wir auf der Basis des bisher Ausgeführten, wenn wir gleich nach der Funktion, dem Referenzproblem von Kultur unter dem Aspekt Spezialisierung/Entspezialisierung fragen. Dafür ist der geläufige 'passive' Selektionsbegriff um den 'aktiven' Selektionsbegriff zu ergänzen. Nicht nur wird die Entwicklung der Organismen von der Umwelt durch Selektion gesteuert, sondern auch das Verhältnis der Organismen gegenüber der Umwelt ist selektiv. Erst diese doppelte Selektion konstituiert das Verhältnis von System und Umwelt in der Geschichte, wobei die Umwelt 'in letzter Instanz' das Sagen hat und Organismen mit unpassenden Selektionen ausmerzt. Bei einem genetisch spezialisierten Organismus bestimmt die biologische Festlegung, was relevante Umwelt ist. Der große Rest wird ignoriert. Die nahrungsuchende Zecke konstruiert ihre Welt mit der simplen Unterscheidung Buttersäure/Nichtbuttersäure, Blut/Nichtblut. Bei allesfressenden Tieren wird das schon weit komplizierter, und deshalb ist auch der Lernanteil am Verhalten viel höher. Aus der potentiell eßbaren Welt muß das junge Tier durch Ausscheiden des Giftigen und Ungenießbaren erst die wirklich eßbare Welt herausarbeiten. Anders gesagt: Die Komplexität der Welt muß reduziert werden durch Selektion entlang der Linie eßbar/nichteßbar. Beim erwachsenen, 'fertigen' Tier hat sich diese Linie schließlich zur Grenze der freß-relevanten Umwelt verfestigt.[47] Kommt es aber nicht zu einer solchen Verfestigung, dann entsteht eine neue Qualität: 'Sinn'. Dies sei näher erläutert.

Systeme konstituieren sich durch Unterscheidung von einer Umwelt und durch problemlösende [19]Selektivität gegenüber dieser Umwelt. Die Zecke ist ein System auf der Ebene der Organismen. Für Systeme dieser Ebene gilt: "Das Risiko des Weglassens wird im Evolutionsprozeß durch Vernichtung und Neubau kompensiert".[48] Einfacher gesagt: Die Zecke stirbt, aber das Leben geht weiter. - Bei den 'sinnkonstituierenden' Systemen kommt etwas Neues hinzu. Sinnkonstitution ist ein Spezifikum von 'personalen Systemen' (Systemen mit 'Bewußtseinszusammenhang') und 'sozialen Systemen' (Systemen mit 'Kommunikationszusammenhang').[49] 'Sinn', so läßt sich in aller Kürze sagen, ist eine Selektivität, die von sich weiß oder ahnt und damit auch immer Sinngrenzen und Verweisungsüberschüsse zu verwalten hat. "Unter Sinn soll ... verstanden sein ein Überschuß an implizierten Verweisungen auf anderes, der zu selektivem Vorgehen in allem anschließenden Erleben und Handeln zwingt. Sinn hält 'andeutungsweise' die ganze Welt zugänglich, erfordert aber damit laufende Selektion des nächsten Schrittes in einem mehr oder weniger apperzipierten Kontext anderer Möglichkeiten."[50]

Das hat viele Konsequenzen, etwa was Kommunikationsanschlüsse zu anderen sozialen oder psychischen Systemen und interne Anschlußkommunikation anbelangt. Im vorliegenden Zusammenhang wichtig ist aber vor allem, daß die menschlichen Überzeugungssysteme - zu diesem Begriff kehre ich nun wieder zurück - sich immer entweder selbst als kontingent denken oder aber geeignete Abschließungsverfahren entwickeln müssen - oder beides. Jede dieser Möglichkeiten hat ihre eigenen Folgeprobleme und ist historisch in unterschiedlicher Weise verwirklicht worden. Jedenfalls wird ein altes erkenntnistheoretisches Problem zu einem "Anwendungsfall von Systemtheorie":[51] Der Dualismus von Erscheinung und Wesen (Idee, Ding an sich) wird zu einer Differenz von erscheinender und nicht erscheinender Umwelt, die durch die von sich wissende Selektivität des Überzeugungssystems konstituiert wird. Es ist anders als bei der Zecke: "Das Woraus der Selektion bleibt mitfungierender appräsentierter Horizont." (S. 22) (Wir wählen aus und wissen, daß da noch mehr ist; die Zecke weiß das nicht.) Luhmann sieht hier das Referenzproblem von Religion. Ihre Funktion sei es, "Unbestimmbares in Bestimmtes oder doch Bestimmbares zu transformieren," (S. 33) eine "Simultanthematisierung" (S. 46) von Bestimmtem und Unbestimmtem.

Evolutionsbiologische wie systemtheoretische Überlegungen führen zu einem Konvergenzpunkt: Unser Erleben und Handeln ist begleitet von dem Wissen, daß alles auch irgendwie anders sein könnte, man weiß nur nicht wie, und daß die 'Welt' nur ein Weltausschnitt ist: außer der 'terra cognita et culta' gibt es auch die 'terra incognita et inculta'.

Damit die Überlegungen etwas handlicher werden, sei hier ein neuer Begriff eingeführt, der Begriff der Nichtwelt. Welt soll das heißen, was durch kulturelle Definition auf die genetischen Dispositionen abgestimmt ist bzw. was durch die Bestimmungsleistungen sozialer Systeme hergestellt wird, Nicht[20]welt das Andere, Undefinierte, Unbestimmte.[52] Welt und Nichtwelt zusammengenommen wären das, was der religiös-philosophische Diskurs als das 'Ganze', die 'Totalität', das 'Pan' bezeichnet. Auch die Welt/Nichtwelt-Grenze läßt sich an traditionelle Konzepte anschließen: Es ist die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, freilich als Systemimmanenz und Systemtranszendenz rein formal ohne metaphysische Implikationen definiert. Gleichwohl ist es die Wahrnehmung dieser Grenze, die als Grundlage jeder Metaphysik gelten kann, von der Schamanenekstatik bis zur Existenzphilosophie.

Unsere Welt ist durchsetzt mit lauter Nichtwelt-Inseln. Schon bei manchem gelungenem Witz öffnet sich augenblickshaft die Nichtwelt und stellt für einen Moment die Welt in Frage (das Lachen über Witze dürfte wirklich ein menschliches Privileg sein), das alte Carneval hat mit Nichtwelt-Thematisierung zu tun, die Werbung sucht unsere Aufmerksamkeit damit zu wecken, die Phantasmen der Pornographie begleiten die geregelte Sexualität. Zu festen Institutionen geronnen aber ist der Umgang mit der Nichtwelt vor allem in drei Bereichen, die allerdings historisch sehr unterschiedliches Gewicht haben: der Forschung, der Religion und der Kunst. Für die folgenden Überlegungen sei der letzte Punkt jedoch sogleich eingeschränkt: Von Musik und bildender Kunst wird nicht die Rede sein, sondern nur von Poesie, also insgesamt nur vom sprachlichen Umgang mit der Nichtwelt. Dies nicht nur, weil die Behandlungen nichtsprachlicher Medien meinen Kompetenzbereich überschreiten würden, sondern weil vermutlich auch etwas andere biologische Voraussetzungen vorliegen, die sich in einer anderen Art der Strukturierung niederschlagen.[53]

Poesie, so sei vorweg formuliert und im weiteren erläutert, basiert auf den biologischen Voraussetzungen einer spielerischen Lust an der Aktivierung und Wahrnehmung genetischer Dispositionen (Spannung, 'Erregung'), des Vorhandenseins eines Raumes freier Verknüpfung (Phantasie) sowie kommunikativer Medien mit Darstellungsfunktion und Überkohärenz. Auf dieser Basis strukturiert sie die Nichtwelt durch verfremdende Wiederholung von Wirklichkeitselementen (Simultanthematisierung), insbesondere der ungelösten Probleme, und etabliert sich damit ebenso als Organon der Reflexion dieser ungelösten Probleme (der Problemüberschüsse des jeweiligen Überzeugungssystems) wie als Platzhalter des unreduzierten 'Ganzen'.


5. Strukturierung der Nichtwelt (a): Biologische Bedingungen

Wodurch entsteht 'Spannung'? Warum kann sogar ein kognitiv völlig unbefriedigender Roman oder Film 'spannend' sein, und das womöglich auch beim zweiten Mal, wenn doch schon alle Informationen vergeben sind?[54] Die Frage nach der 'Spannung' muß als erste geklärt werden, denn auf 'Spannung' basiert alle Literatur, vom Epigramm bis zum Epos.

Oben wurde die Vorstellung einer 'spontanen' Entstehung von 'Triebenergie' abgewiesen. Gleichwohl gibt es bei Tieren, besonders bei jungen höheren Säugetieren eine Sorte von 'Trieb', die tatsächlich spontan zu sein scheint: den Spieltrieb. Das Spiel mit Artgenossen oder spielerische Experimente mit Gegenständen erfolgen allerdings gerade ohne irgendeine Entladung. Das Spiel von Verfolgen und Fliehen, Angreifen und Verteidigen kann mit wechselnden Rollen ohne jede Endhandlung fortgesetzt werden, bis irgendetwas anderes interessant wird. Die Verhaltensprogramme werden von vitalen Handlungszwecken abgekoppelt. Einzelne Verhaltensweisen sind aus ihren Funktionkreisen herauslösbar und stehen für freie Kombinationen zur Verfügung, vom Beutekampf-Spiel kann z. B. umgeschaltet werden auf Rivalenkampf-Spiel usw. Zwar läßt sich die Funktion des Spiels beim Tier als Training und Exploration für Ernstfälle im Erwachsenenalter bestimmen, auch als Mittel der Bindung der Individuen aneinander. Wir können also sagen, wozu Tiere spielen ('ultimate cause') und weshalb sich das Spielverhalten im Erbgut festgesetzt hat.[55] Aber die Tiere wissen nichts davon, daß sie das als Erwachsene brauchen können. Warum also spielen sie, was motiviert sie zum Spiel ('proximate cause')? Es bleibt nichts anderes übrig als der rein formale, aber weitreichende Befund, daß hier anscheinend ein fundamentales Erregungsverlangen,[56] 'Erregungsappetenz', und eine Lust[57] an Erregtheit, am Freilauf und der kreativen Kombina[22]tion von Teilen ererbter Verhaltensprogramme am Werke ist. Lust an eigenem Verhalten markiert aber schon den Ansatzpunkt einer Spaltung innerhalb der Person, die dabei Wahrnehmendes und Wahrgenommenes, Subjekt und Objekt zugleich ist.

Es ist nicht schwer, hier die Brücke zum Menschen zu schlagen. Nach dem von N. Bischof vertretenen Motivationsmodell ist das Erregungsverlangen eines der beiden Hauptmomente des Motivationssystems. Das andere, mit diesem in Spannung stehende, Moment ist das Sicherheitsbedürfnis. In einem Raum, dessen Sicherheit durch Eltern oder andere Rudelmitglieder garantiert ist, entsteht ein 'entspanntes Feld'[58], in dem die Erregungsappetenz sich frei, d. h. ohne den Problemdruck vitaler Bedürfnisse, entfalten kann. Das gilt auch und gerade für menschliche Sozietäten, für Zivilisationen, deren 'Höhe' sich unter anderem nach dem Ausbaugrad des Sicherheitssystems bemißt und die dadurch Räume freier Erregungsappetenz nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene schaffen. Als Emblem, das die Situation prägnant zusammenfaßt, kann man sich die TÜV-geprüfte Achterbahn vorstellen.

Gleichwohl gibt es eine Besonderheit, die wohl kulturellen Ursprungs ist und die eine wichtige Bedingung für die Möglichkeit von Poesie ist: Menschen können auch sehr engagiert anderen beim Spiel zusehen (Tiere wollen gleich mitspielen). Ob Olympia, Gladiatorenkampf, Wagenrennen, Tierhatz oder Fußballspiel,[59] Einzelkampf, Mannschaftskampf oder öffentliche Hinrichtung, es scheint, daß keine Hochkultur ohne institutionalisierte Spiele mit Zuschauern auskommt.[60]

Spontane Zuschauerbildung gibt es vermutlich überall, wo Menschen spielen, ohne daß alle Anwesenden mitspielen können.[61] Das ist bei allen Spielen [23]mit vereinbarten Regeln der Fall: Wenn es sich nicht ohnedies um alters-, status- oder geschlechtsspezifische Spiele handelt, dann ist zumindest die Zahl der aktiv Beteiligten begrenzt, und der Rest muß die Zeit mit Zuschauen verbringen, ehe er wieder 'dran' ist. Das heißt aber, daß das Spiel mit Zuschauern schon in seinen elementarsten Ausprägungen ein kulturelles Phänomen ist. Es ist ein Musterbeispiel dafür, wie kulturelle Regelung zugleich den Ansatz einer produktiven Neudetermination angeborenen Verhaltens herbeiführt. In zwei Punkten unterscheiden sich institutionalisierte Spiele mit Zuschauern ganz wesentlich von den Jugendspielen der Tiere: Sie brauchen eine Endhandlung, den Tod des Gegners oder zumindest den Lauf durchs Ziel oder den Schuß ins Tor - die Leiche am Ende der Tragödie, die Hochzeit am Ende der Komödie. Und sie brauchen konventionell vereinbarte Regeln, die diesen Zweck und die erlaubten Mittel zu seiner Erreichung definieren. Der Schein von Zweckmäßigkeit - "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" - muß erhalten bleiben. Das ist Theater in seiner reinsten, bloß formalen Erscheinungsweise. Das Spiel von Angriff und Verteidigung, von Flucht und Verfolgung, List und Gegenlist, Bedrohung und Rettung, des Kampfes zwischen Gut und Böse um ein hohes Ziel findet auf dem Rasen statt; außerhalb des Rasens ist das Ziel nichts wert. Aber die Begleitemotionen der genetischen Programme können wir ohne Gefahr für unser eigenes Wohlergehen in uns selbst verspüren.

Wörter wie 'Identifikation' oder 'Einfühlung' sind keine Erklärung für die Möglichkeit des Spiels mit Zuschauer, sondern nur Wörter, irreführende dazu, denn die 'Identifikation' ist sehr partiell. Idealistische Erklärungen etwa der Art, daß nur der Mensch des Mitleidens fähig sei, führen nicht weiter: Um dieses 'Mitleidens' willen schickt er Todeskandidaten in die Arena.[62] Man müßte den Begriff des 'Mitleidens' zumindest seiner Wert-Konnotationen berauben. Eher handelt es sich um eine Art Reiz- oder Auslöser-Schmarotzertum.[63] Dies [24]ist aber nur möglich auf der Basis der doppelten Determination durch genetische und kulturelle Kooperatoren und der dadurch gewonnenen Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und der Manipulation. Der kulturelle Kooperator kann in von unmittelbarem Problemdruck entlasteten Situationen, mittels arbiträrer Regeln beliebig gestaltet werden, um den genetischen Kooperator zu aktivieren. Rennen zu lassen ist dann, wie unsere Kulturkritiker schon immer wußten, ganz einfach bequemer und sicherer als selbst zu rennen, zumal in höherem Alter, und die Wahrnehmung eines Teils der genetisch basierten Erregung ist vielleicht sogar noch lustvoller und reiner. Was uns dazu bewegt, einem Drama oder einem Roman mit Anteilnahme zu folgen, ist der Wunsch nach Erregtheit, der Abruf ererbter Dispositionen, die im Medium einer solchen für uns folgenlosen Handlung folgenlos in Bewegung gesetzt und genossen werden können. Die genetischen Kooperatoren sind dann sozusagen unsere eigentlichen Spielpartner, das gesehene Spiel ist nur der Lieferant für erregende Auslöser. Natürlich ist ein 'dramatisches' Fußballspiel noch lange kein Drama; aber die Lockspeise, die uns solche für uns folgenlosen Handlungen überhaupt über Stunden hin 'gespannt' wahrnehmen läßt, ist dieselbe auf dem Rasen wie auf den Brettern: die spielerische Erregung unserer ererbten Dispositionen.[64]

Die willkürliche Besetzbarkeit mit vereinbarten Pseudozwecken lenkt hin zu einer zweiten biologischen Bedingung der Poesie, die zwar schon beim elementaren Spiel mit Zuschauer benötigt wird, aber zugleich die Möglichkeit komplexerer Organisationsformen eröffnet: Phantasie. Konrad Lorenz berichtet von einem Orang-Utan, in dessen Käfig unerreichbar hoch eine Banane aufgehängt, in der gegenüberliegenden Ecke aber auch eine Kiste abgestellt war. Nach einem Wutanfall sei der Blick des Tieres zwischen der Kiste, der senkrecht unter der Banane liegenden Stelle auf dem Boden, der Banane selbst und wieder zurück gewandert, "blitzartig" sei der problemlösende Einfall gekommen und der Orang habe die Kiste unter die Banane geschoben. Das Probehandeln (trial-and-error) war also quasi nach innen verlegt.[65] Das ist für Lorenz ein [25]Hinweis auf die "zentrale [zentralnervöse] Repräsentation des Raumes" bei Primaten, den er für die wichtigste Ansatzstelle unseres Denkens hält: "Ich sehe nicht, was Denken grundsätzlich anderes sein soll als ein solches probeweises und nur im Gehirn sich abspielendes Handeln im vorgestellten Raum."(S. 166) Man kann über diese These streiten. Entscheidend ist jedenfalls, daß Veränderungen der Dinge im Raum nicht mehr unmittelbar am Objekt vorgenommen werden und dann zufällig auch auf Problemlösungen führen können, sondern daß man die Dinge isolieren und sich auch anders verteilt denken kann. Damit wird aber deutlich: Raum-'Repräsentation' allein genügt nicht. Hinzukommen muß ein Denken im Modus 'es könnte auch anders sein', wie es oben expliziert wurde. Ist dies hinreichend komplex, um Voroperationen für planvolles Handeln zu ermöglichen, ist zugleich die entscheidende Voraussetzung für das geschaffen, was wir Phantasie nennen:[66] Die Dinge verlieren ihren Zusammenhang, können neu verteilt werden, und schließlich sind auch gedankliche Operationen möglich, die überhaupt nicht mehr mit einem Handlungszusammenhang in der Wirklichkeit rückgekoppelt sind. Wenn wir Phantasie generell bestimmen als die Fähigkeit zur Auflösung und Neukonstruktion von Zusammenhängen, ist sie zugleich bestimmt als das maßgebliche Organ beim Umgang mit der Nichtwelt.

Schließlich ist noch eine dritte notwendige Bedingung zu nennen: Darstellungsfunktion von Sprache und daran anknüpfend Überkohärenz von Texten. Damit Produkte der Phantasie überhaupt kommunizierbar sind, ist eine gemeinsame sprachliche Konstruktion der Welt nötig. Mag sein, daß Schimpansen im Käfig Tagträume von einem Schimpansen-Paradies mit Palmen, lauen Winden und unzähligen brünstigen Weibchen haben und nachts von Wölfen träumen, die in Bäumen sitzen. In ihren Kommunikationen kommt das aber nicht vor. Ich werde mich hier nicht an den vielfältigen Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache und Denken beteiligen. Aber dies ist festzuhalten: Eine Kommunikation über nicht aktuell Vorhandenes - also jenseits von Zeige-, Kundgabe- oder Aufforderungshandlungen - ist nur möglich, wenn man ein Kommunikationsmedium mit Darstellungsfunktion zur Verfügung hat, einen gemeinsamen Vorrat von Zeichenrelationen, mit dessen Hilfe auch auf Abwesendes referiert werden kann.[67]

Und damit die sprachlichen Kommunikationen über nicht aktuell Vorhandenes stabilisiert und von gegenwärtigen Bedürfnissen abgelöst werden können, müssen Methoden zur Herstellung von Überkohärenz der Texte bereitliegen. Das sei kurz erläutert. Der Zusammenschluß von Sätzen zu Texten wird in der [26]alltagssprachlichen Kommunikation durch zwei Momente bestimmt: Interne Kohärenz (Pro-Formen, Thema-Rhema-Gliederung, Logizität usw.) und externe Referenz (Deiktika, Eigennamen, Kennzeichnungen usw.). Ein solcher Text ist an eine ganz bestimmte Situation gebunden und dazu verurteilt, mit der Situation zu verschwinden. Beim überkohärente Text verschieben sich die Anteile. Die Kohärenz ist durch zusätzliche Mittel verstärkt. Poetische Rede ist immer wieder als gebundene Rede, also als Versrede, definiert worden. An dieser etwas altmodischen Auffassung, die den ganzen Bereich poetischer Prosa auszuschließen scheint, ist aufs Ganze der menschlichen Sprachtätigkeit gesehen mehr Wahres, als man beim Blick auf die letzten zwei Jahrhunderte meinen möchte. Zumindest in vorschriftlichen Kulturen dürfte der Vers das entscheidende Mittel gewesen sein, wie man Texte 'verschnürt' und 'transportabel' macht. Es gibt offenbar ein neurophysiologisch konstituiertes 'Drei-Sekunden-Gegenwartsfenster', d. h. was uns innerhalb dreier Sekunden begegnet, kann als Einheit aufgenommen werden. Pöppel und Turner haben bei der Untersuchung von Gedichten in 14 Sprachen eine eindeutige Bevorzugung des Drei-Sekunden-Verses herausgefunden.[68] Es handelt sich also um eine biologisch bedingte Universalie, die mnemotechnisch eingesetzt werden kann, allerdings nicht nur für Poesie, sondern für jede Art von verschnürtem, tradierungsbedürftigem Text, also auch für Zaubersprüche, Wetterregeln usw. Zu dieser Universalie der Textbindung oder - gewiß erst, wenn zur Unterstützung die Schrift hinzukommt - an ihre Stelle können dann bestimmte Bildverknüpfungen, Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende treten, die durch 'Spannung' verschnürt sind und von denen man nicht einfach irgendetwas wegnehmen kann. Wahrscheinlich kann man die Mittel zur Herstellung von Überkohärenz nur in einer offenen Liste aufzählen. Auf der Seite der Referenz hingegen tritt eine Entlastung ein: Der verschnürte Text kann von der Situation abgelöst werden, ist räumlich und zeitlich transportabel, er kann bloße Phantasieprodukte vermitteln, ist auf verschiedene Situationen applizierbar - auch als Strukturierung der Nichtwelt.

Das bisher Dargelegte läßt sich stützen und noch etwas weiterführen durch Befunde der Gehirnforschung. Hier ist zwar einige Vorsicht geboten. Allzuleicht verselbständigt sich im populärwissenschaftlichen Diskurs die Rede von bestimmten 'Zentren'. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Addition separater, lokalisierbarer Einzelfunktionen, sondern um ein hochintegriertes, vernetztes System, in dem die entwicklungsgeschichtlich neueren Schichten die älteren jeweils neu integrieren. Immerhin läßt sich ein phylogenetisch bedingter grundsätzlicher Unterschied bei der Verarbeitung von gegenstandsbezogenem Wissen und Emotionen festhalten. Gegenstandsbezogenes Wissen wird in [27]jungen Hirnteilen, dem Großhirn, in 'verdichteter' Form konstruiert und gespeichert, also einer begrifflichen Abstraktion und Hierarchisierung nach Relevanz- und Prägnanzgesichtspunkten unterworfen.[69] In dieser Form läßt es sich verhältnismäßig problemlos in darstellender Wort-Sprache codieren und steht für entsprechende Kommunikationen zur Verfügung. Wahrscheinlich gehen die Entwicklungen eines Sprachvermögens mit Darstellungsfunktion und dieser Gehirnleistungen sogar Hand in Hand. Jedenfalls sind solche Abstraktionsleistungen eine entscheidende Voraussetzung für Phantasie.[70]

Anders steht es um die Emotionen. Für sie ist maßgeblich ein alter Hirnteil zuständig, das 'limbische System' oder 'ältere Säugetierhirn'. Das bedeutet allerdings nicht, daß sie im geläufigen Wortsinne 'primitive', störende Atavismen wären, die generell unterdrückt werden müßten, damit wir zivilisiert miteinander umgehen können; ohne Gefühle könnten wir keinerlei Entscheidungen treffen, weil die notwendige Informationsmenge für rein 'rationale' Entscheidungen nie ausreicht (ganz abgesehen davon, daß wir ohne Motivation keinen Anlaß hätten, überhaupt Entscheidungen zu treffen). Ungeachtet ihres vorrationalen Ursprungs sind sie von den späteren Hirnanteilen auf höherer Ebene mitintegriert, also funktional neu bestimmt. Und diese Integration bedeutet zugleich, daß auch "alle bewußten höheren Hirnleistungen ... eine 'Gefühlstönung' aufweisen". Deshalb sind die Emotionen des Spiels auch auf recht hohem Abstraktionsniveau abrufbar: Auch zu Spielsystemen konventionalisierte Formen hochartifizieller Poesie wie im Spätbarock oder semantisch belanglose Experimente der konkreten Poesie können die Explorationslust des Rezipienten ansprechen.

Aber die Emotionen werden nicht 'verdichtet', und das ist folgenreich für den sprachlichen Umgang mit ihnen. "Die Befunde der afferenten Information aus dem autonomen Nervensystem erfahren nicht wie die Umweltinformation eine weitere abstrahierende Verdichtung zu begrifflichen Modellstrukturen, sondern werden bei den Tieren mehr oder weniger unmittelbar in das aktuelle Verhalten eingebracht. Beim Menschen gewinnen die Befunde des vegetativen Gehirns durch die Verbindung mit der Großhirnrinde, insbesondere des Stirnlappens, Zugang zum Bewußtsein", können deshalb besonders im "ent[28]lasteten Feld" des Spiels Gegenstand der Wahrnehmung werden. Sie "bleiben aber - wohl wegen ihrer nicht reduzierbaren Komplexität - im Bereich der subjektiven Empfindung ... Daher können sie auch in der sprachlichen Symbolebene nicht exakt beschrieben, sondern nur bildhaft umschrieben werden".[71] Kommunizierbar sind sie trotzdem, auf der Ebene des nichtsprachlichen, mimischen, stimmlichen und gestischen Ausdrucks, und zwar wiederum sowohl angeborener wie konventionalisierter Ausdruckmittel. Obwohl auch hier wieder ältere Gerhirnanteile maßgeblich beteiligt sind, hat gerade der Mensch eine sehr weite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten (besonders bei der Feinmotorik des Gesichts), offenbar weil es für das komplizierte und sehr differenzierte menschliche Zusammenleben sehr wichtig ist, auch Stimmungen und Gefühle mitteilen und verstehen zu können.[72]

Der Darstellungsfunktion der Wortsprache jedoch ist dieser Bereich nur auf Umwegen zugänglich. Die bekannte Erfahrung: "Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr", hat offenbar eine handfeste neurophysiologische Ursache. Um auf Emotionen auch in der wortsprachlichen Kommunikation wenigstens indirekt referieren zu können, sind spezielle Mittel nötig: Der Einsatz von Metaphern, die demonstrative Zerstörung gegenstandsbezogener Sprache, mit der 'Unaussprechliches' signalisiert wird, auch der einfache scheinbar emotionslose Bericht von Vorgängen oder die einfache Nennung von Gegenständen (Mond, Sterne, "Klopstock" ...), die beim Hörer als Auslöser solcher komplexer Emotionen vorausgesetzt werden können. Wir dürfen vermuten, daß sich auf dieser Grundlage schon in frühen Stadien der menschlichen Stammesgeschichte so etwas wie Lyrik entwickelt hat,[73] und daß sie zu einem [29]wichtigen Muster für den sprachlichen Umgang mit 'Unaussprechlichem' generell, damit aber auch für den sprachlichen Umgang mit der Nichtwelt wurde.


6. Strukturierung der Nichtwelt (b): Simultanthematisierung

Die Nichtwelt, das "dunkle Gebiet ... in dem vorläufig alles aufhört",[74] ist eine ständige Herausforderung. Sie bildet einen leeren Horizont, der abgeschlossen werden muß, um Horizont sein zu können, und sei es mit bloßen Fiktionen. Eine spezifisch moderne Art des Umgangs mit der Nichtwelt läuft unter dem Titel 'Forschung' und versucht die Problematik durch Futurisierung zu entschärfen: Wir werden es wissen (und in der zuversichtlichen technischen Wendung: Wir werden mit künftigem Wissen die Probleme der Zukunft meistern). Völlig leer freilich ist auch diese Nichtwelt nicht, denn sie wird als grundsätzlich zugänglich gedacht und mit Hypothesen durchmessen - widersprüchlichen Hypothesen, solange nicht ein experimentum crucis eine zuverlässige Erweiterung der Welt möglich macht. Die implizite Eschatologie von Forschung - wenn wir unendlich lange geforscht haben, werden wir alles wissen - stellt ein Kontinuum her, das die Welt/Nichtwelt-Grenze als ständig in eine Richtung verschiebbar erscheinen läßt und die Nichtwelt zur Noch-nicht-Welt entdramatisiert. "Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen."[75] Das freilich gilt erst seit wenigen Jahrhunderten. Noch Kolumbus fuhr nicht, um der Welt ein Stück terra incognita einzuverleiben, sondern um einen bequemeren Weg an einen Ort der terra cognita zu finden.

Nur die Kinder reißen einfach aus (die Geschichte vom Rattenfänger zeigt, wohin das führt), Abenteurer werden nur die, denen es zuhause fehlgeschlagen ist, nur Engländer, ohnedies von Spleen und Selbstmord bedroht, begeben sich freiwillig auf Reisen und steigen auf Berge. Von Naturvölkern wird berichtet, daß sie schon einfachste Syllogismen verweigern, wenn sie damit über das Feld unmittelbarer eigener Erfahrungen und Bedürfnisse hinausdenken müßten: "Alle Kpelle sind Reisbauern. Mr Smith ist kein Reisbauer. Ist er ein Kpelle?" Antwort: "Ich kenne den Mann nicht persönlich, habe ihn nie gesehen."[76] Aber ein völliger Abschluß der Welt gegen die Nichtwelt ist nicht möglich. Unwetter, [30]Krankheit und Tod, Feinde und alles andere Unvorhersehbare, Unberechenbare wie etwa die Unzuverlässigkeit der Ressourcen kommen aus ihr; und vielleicht liegt auch die Rettung vor solcher Unbill in ihr. Furcht und Hoffnung und der unvermeidliche Gedanke, daß wenn nicht alles, so doch dies oder jenes auch ganz anders sein könnte, machen ein flexibles Management der Welt/Nichtwelt-Grenze nötig. Ein solches Management mittels 'Simultanthematisierung' erhält bei Luhmann den Namen 'Religion'.

Es gebe, meint Luhmann, "keine spezifisch funktionalen Äquivalente des Religionsbegriffs ... die nicht als Religion erscheinen."[77] "Sobald Religion eingespielt ist auf das Problem der Simultaneität von Unbestimmbarkeit und Bestimmtheit (oder: Transzendenz und Immanenz), gibt es für die Lösung des Problems außerhalb der Religion keine funktionalen Äquivalente mehr." (S. 46)

Luhmanns bloß funktional bestimmter Begriff der 'Simultanthematisierung' sei näher aufgefüllt und damit etwas abgebogen ins Empirische. Nichtwelten, so lautet die Definition nun in Kürze, werden strukturiert durch verfremdende[78] Wiederholung von Weltelementen. Das sei erläutert. Da andere als Weltelemente nicht zur Verfügung stehen - das ist eine Tautologie - , kann nur im Medium von Weltelementen auf Nichtwelt referiert werden. Aber damit wird natürlich jede Aussage über Nichtwelt 'falsch'. Deshalb ist es nötig, sie immer mit einem metasprachlichen Negations- oder Uneigentlichkeitssignal zu versehen. Das ist hier mit 'Verfremdung' gemeint. Am konsequentesten, risikolosesten, aber auch folgenlosesten geschieht das in der negativen Theologie: Die Prädikate Gottes werden als Negation sämtlicher Weltprädikate ausgesprochen. Damit sind alle Mißverständnisse vermieden - auch die lebenspraktisch produktiven, und es kann eigentlich keine Religion entstehen. Anschlußfähiger, aber auch riskanter ist es, wenn man den Effekt durch Hinzufügung eines Vollkommenheitsindex erzielen will: allwissend, allgütig, allmächtig - mit den bekannten Folgeproblemen, die sich aus dem Wörtlichnehmen dieser Prädikate hinsichtlich der Theodizee und der Lehre von der Willensfreiheit ergeben. Darüber hinaus ist noch eine Fülle anderer Verfremdungsmethoden denkbar: Illogizität, phantastische Entstellungen, archaisierende und poetisierende Sprache, die Uneigentlichkeit signalisiert ... Wahrscheinlich könnte auch hier nur eine offene Liste erstellt werden.

Verfremdende Wiederholung von Wirklichkeitselementen: Das kann z.B. das Muster der patriarchalischen Familie sein. Ein persönlich gedachter oberster Gott beansprucht als Vater die alleinige Dominanz und duldet keine fremden Götter neben sich. Die Verfremdung dieses Weltelements besteht zunächst [31]einfach in der übermenschlichen Fülle an Macht. Später kommt mit dem Sohn und dem Geist die Paradoxie von Drei-gleich-Eins hinzu, ergänzt um die der jungfräulichen Gottesgebärerin. Thematisiert werden damit Weltelemente, und im Medium solcher Weltthematisierung können auch Probleme der Wirklichkeit abgehandelt werden: Abraham steht vor dem Problem, ob er als fürsorglicher Familienvater handeln soll oder ob er diese Rolle dem Geheiß einer übergeordneten Autorität (z. B. des Stammeshäuptlings) unterordnen soll. Durch Verfremdung aber wird zugleich Offenheit hergestellt, Nichtwelt thematisiert. Folgerichtig wird die Ausrufung des Machtmonopols sogleich durch das Gebot ergänzt, daß man sich kein Bildnis machen und Seinen Namen nicht aussprechen, d. h. daß man Ihn im Unbestimmten lassen soll, damit Er für das unreduzierte Ganze stehen kann.

So weit läßt sich die These von der Simultanthematisierung also durchaus konkretisieren. Eine andere Frage wäre, ob das für alles gilt, was wir als Religion bezeichnen, aber das liefe dann auf ein Definitionsproblem hinaus. Beunruhigender ist, daß wir Simultanthematisierung auch in der Poesie auffinden können; das scheint das von Luhmann postulierte funktionale Monopol der Religion in Frage zu stellen. Erinnert sei hier nur in aller Kürze an Friedrich Schlegels Konzeption der "Ironie", eine Art Seitenstück zur negativen Theologie, an Goethes Begriff des "Symbols" als "lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen",[79] die Auffassung, daß "alles Vergängliche .. nur ein Gleichnis" sei. Man sagt uns denn auch, "daß die Institution Kunst in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft als funktionales Äquivalent der Institution Religion fungiert."[80] Auch dieses Problem ließe sich auf der Ebene des bloß Definitorischen erledigen, und eine bestimmte Sorte von Poesie wäre dann eben als Unterfall von Religion aufzufassen. Hier aber soll das Problem stehen bleiben. Denn es markiert einen historischen Erklärungsbedarf, hat gerade als Problem heuristischen Wert,[81] und eine bloß theorietechnische Glättung würde das zudecken.

Es ist nötig, zurückzusetzen und zunächst nur festzuhalten: Es gibt Simultanthematisierung von Bestimmtem und Unbestimmtem, Welt und Nichtwelt, und ihre Technik ist die verfremdende Wiederholung von Wirklichkeitselementen. Das gilt schon für Bereiche, die wir gemeinhin nur mit Vorbehalten der [32]Poesie zuschlagen und die allenfalls an der Peripherie des Religiösen angesiedelt sind. Die Schreckgestalten des heutigen Horrorfilms sind keine Angstmacher. Eher im Gegenteil: Sie definieren die Nichtwelt als einen Raum, der mit Angst besetzt ist, tun das aber mittels eines Codes, der Angst zugleich erträglich, ja lustvoll macht. Die Kinoungeheuer sind legitime Nachfahren der Hexen, Drachen, Riesen, Chimären, Vampire. Das sind gewiß furchteinflößende Wesen; aber sie sind weit weniger fürchterlich als es das leere Unbekannte der Nichtwelt wäre, von dem man besser keine Kenntnis nähme. Man kann mit diesen Wesen kämpfen, sie haben verwundbare Stellen, können mit List bezwungen werden. In jeder Landschaft gibt es eine Lokalsage, in der sogar der Teufel selbst von einem schlauen Burschen aufs Kreuz gelegt wird. Und auch wo die Nichtwelt die Kehrseite der Angst, die Hoffnung repräsentiert, darf es nicht bei leerer Hoffnung bleiben. Immer wieder kriegen sich die beiden am Ende, im heroischen Barockroman, im Groschenheft und auf der Leinwand, und versichern uns damit, daß die Welt auch jenseits der Grenzen unserer Erfahrung in Ordnung ist, womöglich mehr als diesseits. Gerade die Nichtwelt schlechthin, die Unter-Welt oder die Über-Welt, in die man nach dem Tod gelangt, bedarf der Möblierung mit Weltelementen. Der Moslem darf dann sogar Wein trinken (Sure 83. 22 ff.). Und auch die Höllenstrafen, so schrecklich sie sein mögen, sind Verlängerungen irdischer Folterkammern, die man durch ein gottgefälliges Leben vermeiden kann. Auch sie implizieren eine Ordnungsgarantie.

Nichtwelt wird durch solche Codierungen handlich gemacht, aufs Maß der Welt gebracht. Die Wiederholung der Weltelemente ist gewiß auch hier verfremdet, denn anders ließe sich nicht auf Nichtwelt referieren. Eine Simultanthematisierung findet also durchaus statt. Aber sie wird vorwiegend instrumentell eingesetzt, sie dient der Routinisierung des Umgangs mit der Nichtwelt, bannt die Nichtwelt, d. h. sie holt sie in den 'Bann', in den Rechts- und Herrschaftsbezirk der vertrauten Welt herein und unterwirft sie deren Regeln. Ist das schon 'Poesie'? Die konsequenteste Form eines solchen bannenden Umgangs mit der Nichtwelt, eine dogmatische Theologie mit Rationalitätsanspruch, wird den Namen der Poesie selbst von sich weisen. Gleichwohl steht sie am einen Ende eines Kontinuums, dessen anderes Ende durch Musik oder bloßes Schweigen gekennzeichnet ist. Poesie aber läßt sich bestimmen als der Zwischen- und Übergangsbereich, in dem die unterschiedlichen Grade des Anteils von Nichtwelt-bannender und Nichtwelt-thematisierender Funktion der Rede anzusiedeln wären.


7. Die ungelösten Probleme und das Ganze.

Zu Beginn dieser Ausführungen wurde eine Definition von 'Dichtung' verweigert. Denn unter diesem Namen werden Phänomene zusammengefaßt, die zwei ganz verschiedene Bezugsprobleme haben und damit zwei ganz verschiedene Funktionen.

[33]Soweit Dichtung ausschließlich der Funktionsweise des 'Prodesse' verschrieben ist,[82] findet überhaupt keine Simultanthematisierung statt. Zwar gibt es auch hier verfremdende Wiederholungen von Wirklichkeitselementen, etwa die sprechende Tieren der Fabel. Die 'Spannung' des Spiels wird auch hier vorausgesetzt, ebenso die Verfügbarkeit der Dinge durch Phantasie, und insofern ist auch immer 'Delectare' mitvorhanden. Doch wird Nichtwelt nicht thematisiert, sondern als manipulierbare Projektionsfläche verwendet und ihrerseits durch eine Moral abgeschlossen. Die Fabel, jedenfalls im alten Sinn, hat einen "allgemeinen moralischen Satz" so zu präsentieren, daß man ihn "anschauend erkennt".[83] Es wäre geradezu sinnwidrig, wenn sie auch Verweisungsüberschüsse enthielte. In diese Funktionsweise dient Poesie der Wertevermittlung, wie sie eingangs angesprochen wurde. Zu den Mitteln der Komplexitätsreduktion tritt sie als Hilfs-Mittel in Dienst, hat primär subsidiäre Funktion. Ihr Bezugsproblem ist die sozio-kulturelle Stabilisierung und Integration, ihr Verfahren die 'anschaulich'-konkrete Exemplifizierung der Werte.

Der andere Typus, ich nenne ihn den komplementären, hat die von sich wissende Selektivität der Überzeugungs-Horizonte, die Entdeckung der Nichtwelt, zum Bezugsproblem, und er löst es durch eine Simultanthematisierung von Welt und Nichtwelt, die auf ungebannte Nichtwelt oder zumindest auf einen ungebannten Rest von Nichtwelt verweist. Die Bestimmung 'verfremdende Wiederholung von Wirklichkeitselementen', die ja sowohl auf einen ausschließlich bannenden Umgang mit Nichtwelt als auch auf reine Prodesse-Dichung zutrifft, muß dafür noch um ein weiteres Bestimmungsmoment ergänzt werden.

Mir scheint, von entscheidender Bedeutung ist das semantische Material, mittels dessen auf Nichtwelt referiert wird: Was ist besonders geeignet, auf Nicht-Welt zu referieren, ohne sie zugleich verfügbar zu machen und zu bannen? Allgemeine moralische Sätze gewiß nicht. Es sei denn, sie wären unerfüllbar (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, jeden; liebe sogar deine Feinde!) oder die Fabel enthielte zwei einander widersprechende Maximen, ohne daß eine Entscheidung angeboten würde. Dann plötzlich wird Nichtwelt thematisiert, die Welt jenseits der kulturellen Bestimmungsleistungen.[84] Oder in allge[34]meinerer Formulierung: Als Zeichenmaterie, die auf Nichtwelt referiert, eignen sich besonders die ungelösten Probleme der Welt. Jedes ungelöste Problem impliziert das Signifikat: Es gibt noch anderes, das wir nicht kennen oder nicht beherrschen. Poesie, soweit sie Simultanthematisierung ist, die Komplementärfunktion von Poesie, erhält damit eine zweifache Referenz. Sie bezieht sich auf ungelöste Probleme der jeweiligen Welt, und im semantischen Medium der ungelösten Probleme bezieht sie sich zugleich auf das unreduzierte 'Ganze'.

Hier geraten wir sogleich tief ins Historisch-Jeweilige und damit an die Grenze des biologisch-anthropologischen Ansatzes. Denn welche Probleme ungelöst bleiben und als ungelöste ins Bewußtsein gelangen, hängt von den Bestimmungsleistungen des jeweiligen Überzeugungssystems ab. Rudolf Unger hat zwar 1924 in einem Aufsatz eine Liste sogenannter ewiger Probleme erstellt, die in der Poesie behandelt werden: Das Problem von Freiheit und Notwendigkeit, das der Religion, das der Liebe, das des Todes und das der Gesellschaft.[85] Man kann darüber streiten, ob es sich hier um ewige Probleme handelt; mit einigen Umformulierungen könnte man daraus immerhin einen Grundstock von Problemen entwickeln, mit dem jede Gesellschaftsstruktur irgendwie fertig werden muß, etwa die Regelung von Sexualität, kollektiv zu befolgenden Entscheidungen usw. Aber man muß bezweifeln, daß diese Probleme immer zur Domäne der Poesie gehören. Daß die Religion als Problem in die Poesie eingeht, setzt z. B. voraus, daß sie schon außerhalb der Poesie zum Problem geworden ist, daß damit aber auch die religiöse Todesdeutung nicht mehr tragfähig ist und der Tod als Problem erst frei wird für die Poesie. Eher schon wäre von einem relativ begrenzten Fundus von Motiven zu sprechen, der auf möglichst unspezialisierter, insofern universeller Erfahrung oder auf kulturspezifisch als 'poetisch' stereotypisierter Tradition beruht, aber zu den jeweiligen Realproblemen keineswegs in einem Abbildungsverhältnis stehen muß, sondern den Charakter von Spielstein-Systemen haben kann, in denen diese Probleme codiert werden.

Mehr noch: Die Bereitschaft, ungelöste Probleme als ungelöste überhaupt zu thematisieren, ist gleichfalls eine Sache des jeweiligen Bedingungsgefüges. Die Geschichte von Abraham und Isaak enthält ein wahrhaft grauenvolles Problempotential. Aber indem Abraham sich unterwirft und der HERR ihm das Opfer erläßt, wendet sich alles zum Guten. Es hat den Anschein, daß zumindest in der deutschen Literatur ungelöste Probleme als ungelöste in größerem Umfang überhaupt erst seit gut 200 Jahren in der Literatur behandelt werden, und den Gründen dafür wird nachzugehen sein. Aber auch wo die Unlösbarkeit da[35]durch absorbiert wird, daß ein deus ex machina alles zum Guten wendet oder der Held durch Standhaftigkeit jenseitige Glorie erringt oder die Ethik dem Leiden irgendeinen Sinn gibt, bleibt doch Raum genug, die Probleme zu artikulieren, die so hohen Lösungsaufwand nötig machen.

Überkohärenz und Entlastung von Referenz-Ansprüchen können jedenfalls als Freiheitsspielraum genutzt werden: Poesie kann sich den 'Wahrheits'-Ansprüchen anderer Problemlösungsinstanzen entziehen, kann sich der Reduktion der Komplexität von Welt durch andere Instanzen verweigern und eine eigene 'Wahrheit' konstituieren - kann gerade die Thematisierung der Kosten solcher Reduktion von Komplexität zu ihrer eigentlichen Domäne machen. Die Simultanthematisierung, die sie leistet, die Kippfiguren der zweifachen Referenz, wären dann so zu bestimmen: Sie konstituiert sich einerseits als ein von Lösungszwang entlastetes Organon der Reflexion der jeweils ungelösten Probleme und begleitet auf diese Weise die Evolution der Überzeugungssysteme wie ein Schatten. Anderseits aber sind die ungelösten Probleme ein semantisches Organisationsprinzip der Nichtwelt, sind sie nicht mehr und nicht weniger als Platzhalter des unreduzierten Ganzen.

Religion, Poesie, Forschung - es sind wohl recht 'moderne' Prozesse der Ausdifferenzierung von Subsystemen, die solche Unterscheidungen erst hervorbringen, und hier hätte nun die historische Analyse anzusetzen. Die Unterscheidungen haben zwar ein Fundamentum in re, werden aber immer wieder übersprungen. Immerhin ist es möglich, abschließend eine Leitdifferenz namhaft zu machen, die für Poesie konstitutiv ist: Es ist die Ausdrucksform der uneigentlichen Rede. Man kann fragen, ob nicht auch das eine recht moderne Erscheinung ist. Der biologische Befund läßt freilich eher eine Universalie vermuten. Denn schon das innerartliche Spiel der Tiere ist von Spielsignalen begleitet, die vermitteln, daß es nicht 'wörtlich' so gemeint ist,[86] und scherzhafte Rede zumindest dürfen wir wohl schon unseren Urahnen zugestehen. Luhmann hat schon Recht, wenn er der Religion und ihren spezifischen Chiffrierungsleistungen eine herausgehobene Stellung zuweist, insofern sie nämlich den Anspruch erhebt, eigentliche Rede von der Transzendenz zu sein. Will sie sich nicht selbst aufgeben und zur Poesie erklären, so muß sie darauf bestehen, daß Auferstehung, Dreieinigkeit oder Jungfrauengeburt nicht bloße Metaphern, sondern Tatsachen, zumindest Mysterien sind, und man hat je konsequenterweise um solcher Dinge willen auch auf sehr eigentliche Weise Menschen getötet. Sie findet ihre Raison wie andere Institutionen darin, daß sie auch Lösungen unterbreitet (Ungelöstes verschweigt).

Poesie als uneigentliche Rede jedoch hat auch in ihren anspruchsvollsten Ausprägungen noch immer die Freiheit des Spiels, dies freilich in dem Sinne, in [36]dem Goethe den FAUST im letzten Brief seines Lebens als "diese sehr ernsten Scherze" bezeichnete.[87] Sie kann es sich sogar leisten, nichts weiter zu bieten als wohlformulierte Ratlosigkeit, leeres 'Es gibt auch anderes', 'Es könnte auch anders sein'. - Wie dies sich historisch verwirklicht, ist an dieser Stelle nicht mehr zu erörtern.

Für kritische Begleitung danke ich Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems.

Zusätze:

Eine elementare Form zwar nicht des Spiels, aber der Handlung mit gespanntem Zuschauer hat schon Wolfgang Köhler an seinen Schimpansen beobachtet. Der Affe Sultan war besonders geschickt beim Auftürmen von Kisten zu einer Pyramide, über die eine Banane am Käfigdach zu erreichen war. Es wurde ihm verboten, sich in die Bauversuche der ungeschickteren Affen einzumischen. Wenn nun die anderen Affen bauten, beobachtete er das mit der größten Erregung, und wenn ein anderer Affe schließlich nach der Banane griff, durchzuckte es auch ihn und er griff nach oben. Das scheint mir ein wichtiger Hinweis darauf, wie durch eine 'kulturelle' Regel - das Verbot, selbst zu bauen - ein 'Miterleben' des Zuschauers hervorgebracht wird. Köhler, S. 121 sowie Abb. IV und VII ±.Gehört in den Umkreis von Anm 61.

Anteilnahme wird zB geweckt über Brutpflege- und im weiteren Hilfeappelle, Gruppensolidarität (einer unseresgleichen leidet), oder auch die Figur des gefährdeten, aber siegreichen Vorbilds.

Je diffuser, mehrdeutiger der Ausdruck ist, desto vielversprechender, anschußfähiger

Novalis: Gefühl des undeutlichen Ganzen, 1965, Bd 2, S.537



Prof. Dr. Karl Eibl
Institut für Deutsche Philologie
der Ludwig-Maximilians-Universität München
Schellingstraße 3
D-80799 München

Unredigierte Fassung des in IASL 18,1 (1993) im Druck erschienenen Aufsatzes.



Anmerkungen
[1] Der Aufsatz basiert auf meiner Münchner Antrittsvorlesung aus dem Januar 1991. Ein Versuch, die Evolutionstheorie methodologisch fruchtbar zu machen (als historische Systemtheorie und, in Gestalt der Kognitionsbiologie, als Basis der 'hermeneutischen' Rekonstruktion fremder Problemlösungsaktivität): Karl Eibl: Zurück zu Darwin. In: Michael Tietzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991. S. 347-364.
[2] Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Biologie des menschlichen Verhaltens. München/Zürich 1984, S. 829 sowie 836-859. - Weitere Kompendien: Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. 7. Aufl. München/Zürich 1987; Klaus Immelmann, Klaus R. Scherer, Christian Vogel, Peter Schmook (Hgg.): Psychobiologie. Stuttgart/New York 1988; Reader: Klaus R. Scherer, Adelheid Stahnke, Paul Winkler (Hgg.): Psychobiologie. München 1987.
[3] Als würde man die Fühler der Schnecke, die Haare der Säugetiere und die Dornen der Rose nach ihrer äußerlichen Ähnlichkeit unter einem gemeinsamen Namen zusammenfassen und gemeinsam zu erklären versuchen.
[4] Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. Bd. 5. München 1958. S. 290.
[5] So Schiller aaO. Er schätzt diese Position aber als eine "schöne Verirrung des Verstandes" ein, als "ein System, das allem, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft".
[6] Burrhus F. Skinner: Jenseits von Freiheit und Würde. Reinbek 1972.
[7] Johann Peter Regelmann: Die Geschichte des Lyssenkoismus. Frankfurt/M. 1980. Regelmann legt Wert darauf, daß diese Position sich nicht aus dem Marxismus-Leninismus ergebe.
[8] Dies wird man heute von den meisten tragenden Begriffen der Psychoanalyse Freudscher Prägung sagen müssen. (Polemische, doch wohlfundierte Zusammenfassung der Kritikpunkte bei Dieter E. Zimmer: Tiefenschwindel. Reinbek 1986.) Die Grundfragestellungen der Psychoanalyse werden in Zukunft vermutlich adäquater von der Psychobiologie behandelt werden. Vgl. zu wichtigen Teilbereichen Norbert Bischof: Das Rätsel Ödipus. München/Zürich 1985. Wenn noch immer die Auffassung vertreten wird, daß die Inzestvermeidung eine ausschließlich kulturelle Erscheinung mit unerhörten Folgen sei, daß es eine Erinnerung an irgendwelche Urszenen gebe, die phylogenetisch begründet ist, oder daß in uns ein 'Todestrieb' walte, wird man das nach dem heutigen biologischen Erkenntnisstand ebenso als eine Schrulle einschätzen müssen wie die Auffassung, daß die Sonne sich um die Erde dreht.
[9] Siegmund Freud: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M. 1953. S. 93.
[10] Für ihn wäre, wenn man überhaupt das Energiekonzept anwenden will, eigentlich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der Entropiesatz, zuständig. Mit dem läßt sich aber kein 'Trieb' konzipieren: Zerfall geschieht von selbst.
[11] Die letzte, etwas revidierte Version dieses Modells in Konrad Lorenz: Vergleichende Verhaltensforschung. Wien 1978. S. 143 ff. Hier werden nun auch 'aufladende' Außenreize berücksichtigt.
[12] Hierzu Bischof (wie Anm. 8), S. 241 ff. - Daß manche Zölibatäre immer nur an das Eine denken, kommt nicht vom 'Triebstau', sondern der 'Triebstau' kommt davon, daß sie immer nur an das Eine denken.
[13] Wolfgang Wickler: Von der Ethologie zur Soziobiologie. In: Jost Herbig, Rainer Hohlfeld (Hg.): Die zweite Schöpfung. München 1990. S. 173-186. S. 176. Vgl. u. a. auch Robert Aubry Hinde: Biological Bases of Human Social Behavior. New York 1974. Besonders S. 254-279. - Eher zu bedenken ist, daß beim Menschen die Aggressionsbereitschaft lockerer in die 'unfertigen' (s.u.) Verhaltensprogramme eingebunden ist als beim Tier: Mehr als beim Tier sind Umadressierungen denkbar (vom Chef auf die Ehefrau) oder Sprünge von einem Programm ins andere, etwa vom Kommentkampf mit dem Artgenossen in die Tötungsbereitschaft gegenüber der Beute. Das macht die Sache unberechenbarer und gefährlicher als beim tierischen Verhalten.
[14] Donald T. Campbell: On the conflicts between biological and social evolution and between psychology and moral tradition. In: American Psychologist 30 (1975). S. 1103-1126. Campbell diskutiert zwar auch 'Sociobiology', beschränkt deren Altruismus-Konzept aber auf Insektengesellschaften. Teilabdruck auch in: Scherer/Stahnke/Winkler (Hgg.): Psychobiologie (Reader, wie Anm. 2).
[15] Der Vorwurf, daß Lorenz menschliche Aggressivität als naturgegeben rechtfertige, ist Unsinn. Das politisch-moralische Problem liegt hier wie auch bei Gehlen an anderer Stelle: Aus der These von der kulturellen Kontrollbedürftigkeit menschlicher Aggressivität ließen sich ähnliche politische Folgerungen ableiten, wie Hobbes sie aus der Wolfsnatur des Menschen abgeleitet hat.
[16] Freud: Unbehagen, S. 105: "Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte" - mit dem Hinweis freilich, daß das nur für das Oberhaupt der Familie galt.
[17] The genetical evolution of social behavior. In: The Journal of Theoretical Biology 7 (1964). S. 1-52.
[18] Group selection and kin selection. In: Nature 201 (1964). S. 1145-1147; ferner: Evolution and the Theory of Games. Cambridge 1982.
[19] Sociobiology - The New Synthesis. Cambridge/London 1975.
[20] Einschränkend muß gesagt werden, daß 'Sociobiology', so weit sie allein Verwandtschaftsselektion berücksichtigt, keineswegs alle Formen 'altruistischen' oder kooperativen Verhaltens erklärt. Es gibt solches Verhalten auch zwischen nicht oder nur sehr fern verwandten Individuen. Hier müssen kompliziertere soziale Mechanismen angenommen werden, z. B. langfristige Investitionen in 'Freundschaften'.
[21] Dokumentation: Arthur L. Kaplan (Hg.): The Sociobiology Debate. New York u.a., 1978; Diskussion unter dem Titel "Die Bedeutung der Biologie für eine Historische Anthropologie" in: Saeculum 36 (1985). Heft 1; militant kulturistisch: Hubert Ch. Ehalt (Hg.): Zwischen Natur und Kultur, Wien/Köln/Graz 1985; gemäßigt kulturistisch, doch mit einigen üblen demagogischen Einsprengseln: Herbig/Hohlfeld (Hg.): Die zweite Schöpfung (wie Anm. 13); Versuch einer abwägenden Darstellung mit Sympathie für 'Sociobiology': Franz M. Wuketits, Gene, Kultur und Moral, Darmstadt 1990. (Teilweise obskurantistisch: Alfred Locker, Hg.: Evolution - kritisch gesehen. Salzburg/München 1983.)
[22] Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. München 1972, führt derartige Argumentationen auf den Grundgedanken eines intentionalen Weltbildes zurück: Wenn die Welt technomorph als Produkt eines Baumeisters, d. h. als 'Schöpfung' gedacht wird, dann ist es konsequent, der "Natur" eine wertrationale Struktur zu unterstellen.
[23] Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. Wien/München/Zürich 1973. S. 70.
[24] Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 5. Aufl. Tübingen 1991. S. 91 f.
[25] Unter anderem mit Hilfe geschickter Nutzung genetischer Dispositionen: Eine liebenswürdig lächelnde Stewardeß reicht uns 'kostenlos' eine Mahlzeit, und diese Brutpflegehandlung beruhigt uns. Daß man das neuerdings durch Aushändigung eines Imbißpakets am Boden ersetzen will, ist zwar rationell, aber sinnwidrig: Wir werden darauf aufmerksam gemacht, daß wir uns zu einem gewagten Unternehmen aufmachen, zu dem man Proviant mitnehmen muß.
[26] Titel der deutschen Übersetzung von Wilsons _On human Nature_ (1978), Frankfurt/Berlin/Wien 1980.
[27] Vernon Reynolds, Vincent Falger und Jan Vine (Hg.): The Sociobiology of Ethnozentrismus. Athens 1986.
[28] Ähnliches gilt für Richard D. Alexander: Darwinism and Human Affairs. Seattle und London 1979, der konsequent "Interesse" als Reproduktionsinteresse im Zusammenhang der Gesamtfitness interpretiert. Im Gegensatz zu Campbell warnt er vor Idealen; gerade in ihnen inkorporiere sich der Gruppenegoismus.
[29] Vgl. hierzu Bischof (wie Anm. 8), bes. S. 77-87 und 412 f. Grundsätzlich wäre auch eine Evolutionsstrategie konsequenter Inzucht möglich, bei der dysfunktionale Merkmale sehr schnell sichtbar und der Selektion ausgesetzt wären. Sozusagen die äußerst riskante Zucht des homozygoten Übermenschen. Mit der geschlechtlichen Vermehrung ist aber die grundsätzlich andere Strategie des Genaustauschs gewählt. - Jean Walters MacCluer and Bennett Dyke: On the minimum size of endogamous populations. in: Social Biology 23 (1976). S. 1-12, haben in einer Computersimulation errechnet, daß die Minimalgröße einer endogamen Population, die das Überleben ermöglicht, bei 100 bis 200 Personen liegt - dies freilich nur unter optimalen Umständen (u. a. einer für Steinzeitverhältnisse völlig unrealistischen Fertilitätsdauer bis 49 und einem Höchstalter von 80). Andere Schätzungen kommen auf 500. Lokalgruppen heutiger Jäger und Sammler umfassen im Mittel 25 Personen (Eibl-Eibesfeldt: Biologie, wie Anm. 2, S. 758), sind also auf größere Zusammenschlüsse angewiesen.
[30] Bischof (wie Anm.8), S. 413.
[31] Wer das kulturelle Know-How der Steinzeit so niedrig einschätzt, daß es als Selektionsfaktor vernachlässigt werden kann, sei zu einem sadistischen Gedankenexperiment eingeladen: Der Lehrkörper eines germanistischen Instituts - abzüglich der Personen mit Heimwerker- und Hausarbeits-Erfahrung - soll nackt ins Paläolithikum versetzt werden, dort einige Eiszeit-Winter überleben und die Anfänge der Höhlenmalerei erfinden.
[32] Überblick bei Charles L. Lumsden und Ann C. Gushurst: Gene-culture coevolution: humankind in the making. In: James H. Fetzer (Hg.): Sociobiology and Epistemology. Dordrecht/Boston/Lancaster 1985. S. 3-28.
[33] "Viel von dem uns Menschen als 'biologisches Erbe' Angeborenen ist stammesgeschichtlich menschenspezifisch" - unter Kulturbedigungen entwickelt. Eibl-Eibesfeldt: Grundriß, S. 783. Ähnlich Biologie, S. 300 (beide wie Anm. 2): "Nichtbiologen machen häufig den Fehler, Anpassungen im Verhalten, die nicht Tiererbe sind, als kulturell zu deuten. Das ist pauschal nicht zulässig. So wie viele morphologische und physiologische Eigenschaften des Menschen zweifellos phyletischer Neuerwerb sind, aber dennoch stammesgeschichtlich entwickelt, so sind auch viele der Eigentümlichkeiten seines Verhaltens stammesgeschichtliche Neuanpassungen, spezifisch für Homo sapiens und also angeboren." Auch hier vermisse ich allerdings den Hinweis auf die außergewöhnlichen Selektionsbedingungen, unter denen sich dieser Neuerwerb vollzog.
[34] Eibl-Eibesfeldt: Grundriß (wie Anm. 2), S. 721.
[35] Schon Ernst Caspari: Selective forces in the evolution of man. In: The American Naturalist 97 (1963). S. 5-14, S. 11 ff.: "It is, then, proposed that in the evolution of man genetic change and cultural change have been in a positive feedback relation with each other: genetic changes have caused a increased ability for active adaptation by cultured means, and adaptation by cultural means has changed environmantal conditions ... This model stands in contrast to the ical idea that genetic adaptation in man has been replaced by cultural adaptation; it rather postulates that these two processes go hand in hand, supplementing each other ... It may be inforced by this hypotheses that, as in most positive feedback relations, both components of the process should have produced with increasing velocity in time."
[36] Wilson: Sociobiology (wie Anm. 19), S. 566-568, spricht mit einem Ausdruck aus der Chemie von "Autokatalyse".
[37] Anders als der Neanderthaler, der offenbar in eine solche Sackgasse geriet, obwohl er ein noch größeres Gehirn hatte als wir. Wahrscheinlich gab es zahlreiche solcher inzwischen ausgestorbener Linien, die sich alle irgendwo festfuhren. Dafür spricht auch die - allerdings noch umstrittene - "Eva-Hypothese", daß unser aller Urmutter vor etwa 200 000 (??) Jahren in Afrika lebte; von allen, an vielen Stellen der Erde begonnenen, Hominisationslinien habe sich nur diese durchgesetzt. Vgl. Allan C. Wilson und Rebecca L. Cann: Afrikanischer Ursprung des modernen Menschen. In: Spektrum der Wissenschaft. Juni 1992. S.72-79. Gegenposition im selben Heft Alan G. Thorne und Milford H. Wolpoff: Multiregionaler Ursprung der modernen Menschen. S. 80-87, mit der Voraussetzung eines weltweiten Genaustausches. Bei uns selbst sind anscheinend die exosomatischen Elemente seit rund 400 Jahren in einen solchen Rückkoppelungsschub geraten, haben sich zu einem Subsystem mit eigener Dynamik ausdifferenziert, und man muß erst sehen, was daraus wird.
[38] Erhebliche Folgen hatten jedenfalls das Freiwerden der Hände, die verschiedenen Stadien der Sprachentwicklung sowie die Umstellung der Sexualität vom periodischen Anfall zur kulturell regelungsbedürftigen Dauerverfügbarkeit.
[39] Zur Neotenie-These M. F. Ashley Montague: Time, morphology, and neoteny in the evolution of man. In: Montague, Culture and the Evolution of Man. New York 1962. S. 324-343. Konrad Lorenz: Psychologie und Stammesgeschichte. In: Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Bd. 2. München 1965. S. 492-529. Klassisch Ludwig Bolk: Das Problem der Menschwerdung. Jena 1926, unter den Begriffen 'Fetalisation' und 'Retardation'. Das 'Dollosche Gesetz' ('Irreversibilitätsgesetz'), nach dem es Entspezialisierungen überhaupt nicht geben könnte, ist vor allem durch das Neotenie-Konzept in seiner Allgemeingültigkeit einzuschränken. Vgl. Adolf Remane, Volker Storch, Ulrich Welsch: Evolution. 5. Aufl. München 1980. S. 129 ff. Hier handelt es sich nicht um eine Rückentwicklung zu früheren Lebensformen auf dem Wege unzähliger Einzelmutationen und -selektionen, sondern um das Ansetzen bei einem 'Relais'.
[40] Ich vermeide die in diesem Zusammenhang übliche Bezeichnung des Menschen als 'Neugierwesen'; es ist stark kulturabhängig, ob Neugierde prämiiert oder als sündhafte Neigung, 'curiositas', verdächtigt wird und zu den bösen 'Trieben' zählt, die zu unterdrücken sind. Auch hier wieder: Der Mensch kann Neugierwesen sein, aber diese Disposition kann auch stark reguliert sein.
Die Neotenie-These ist nicht unumstritten. Vgl. Philip Lieberman: The Biology and Evolution of Language. Cambridge MA 1984. Speziell bei der Steuerung des Verhaltens wäre zu bedenken, ob nicht die Überbauung alter Hirnteile durch neue etwas grundsätzlich anderes darstellt, was nur im Effekt so ähnlich aussieht (daher 'Pseudo-Neotenie'): Auch wenn die Leistungsfähigkeit der alten Hirnteile 'absolut' nicht abnimmt, wird ihr relativer Anteil an der Verhaltenssteuerung drastisch vermindert, auf der neuen Integrationsebene funktional neu bestimmt und durch Überbauung zum 'Halbfertig-Produkt' heruntergestuft.
[41] Auf Widersprüche zwischen solchen Verhaltensprogrammen sind die 'Übersprunghandlungen' zurückgeführt worden, die damit als Ausdruck eines inneren Konflikts geradezu menschliche Züge erhielten. Es hat aber den Anschein, daß zumindest ein Großteil solcher Handlungen auch anders erklärt werden kann, nämlich als Besitzstand-Signal, das erhöhte Kampfbereitschaft anzeigen soll. Wenn der Stichling an der Reviergrenze mitten im Kampf Nestbaubewegungen macht, kann das "sehr wohl eine Geste sein, die dem Gegner anzeigt: Ich bin hier schon beim Nestbau, und gedenke nicht, diesen Platz irgendjemandem anderen zu überlassen." Wolfgang Wickler und Uta Seibt: Das Prinzip Eigennutz. Hamburg 1977. S. 293.
[42] Dieter E. Zimmer: Experimente des Lebens. Zürich 1989, S. 321, spricht anschaulich von "Verhaltensvorschlägen".
[43] Beliebter Gegenstand von Schockformulierungen: "Menschen mit der Motivationsstruktur und intellektuellen Kapazität eines altsteinzeitlichen Jägers und Sammlers steuern heute Düsenjäger!" Eibl-Eibesfeldt: Biologie (wie Anm. 2), S. 33. Das ist übrigens rechnerisch zweifelhaft; denn 99 Zeitprozente lassen sich nicht einfach auf 99 Anteilsprozente bei der zentralen Steuerung umrechnen.
[44] Das gilt auch für die höheren kognitiven Funktionen. Kausalität, Induktion, Deduktion, Raum, Zeit sind der Kognitionsbiologie zufolge stammesgeschichtlich entwickelte Formen der Informationsverarbeitung. Die Inhalte, die mittels dieser Formen verarbeitet werden, sind kulturell (mit)definiert.
[45] Redensartlich wird auch im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten von 'Prägung' gesprochen, um die Bedeutung von Kultur auszudrücken. Möglicherweise wird dabei aber ein wichtiger Unterschied verwischt. In der klassischen Definition von Konrad Lorenz (Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. In: Über tierisches und menschliches Verhalten. Bd. 1 (wie Anm. 39). S. 95-228. Hier: S. 218) basiert der Vorgang der Prägung auf "objektlos angeborenen Verhaltensweisen", denen in einer eng umgrenzten sensiblen Phase ein Objekt "irreversibel" zugeordnet wird. Lorenz unterscheidet das strikt von "Lernen", einem Vorgang, bei dem "das Erlernte sowohl vergessen als umgelernt werden kann." Bei der Prägung kann es nicht zu einer Differenz-Wahrnehmung kommen, da Angeborenes und Hinzuerworbenes naht- und rückstandslos aufeinander passen.
[46] Auch das Wort 'Bewußtsein' wird zum terminologischen Vexierbild, wenn man ins Tier-Mensch-Übergangsfeld hineinsieht. Ich halte es für bedenklich, wenn in diesem Zusammenhang immer der Schimpanse genannt wird, der sein eigenes Spiegelbild erkennen kann. Das will bei diesem Augentier nicht viel mehr bedeuten als wenn der Hund, ein Geruchstier, seinen eigenen Geruch erkennt. Sinnvoll erscheint mir 'Bewußtsein' als Terminus erst, wenn er eine Selbstbeobachtung mit Unterscheidung zwischen Aktualität und Virtualität betrifft. - Mit der Frage des 'Bewußtseins' hängt auch die der 'Emotionen' zusammen. Man kann mit Gründen vermuten, daß Tiere überhaupt keine Emotionen im uns bekannten Sinne haben, weil unser seelisches Erleben maßgeblich von der Wahrnehmung der innerpersonalen Differenz von genetischem und kulturellem Kooperator mitbestimmt ist. Ähnliches gilt für die Selbstdarstellung, die zwar Ansätze beim Werkzeuggebrauch des Affen für Imponiergesten haben mag, aber mit Schmuckbedürfnis und Scham (Beherrschung des eigenen Erscheinungsbildes) eine neue Qualität erreicht.
[47] "Dasjenige, was der Rabe in so ansprechend menschlich wirkenden Experimenten in seiner Jugend erwirbt, erstarrt bald zu Dressuren, die späterhin so wenig veränderlich und anpassungsfähig sind, daß sie sich hierin von instinktivem Verhalten kaum mehr unterscheiden ... ein erwachsener, nicht einmal alter Rabe, dem man einen grundlegenden Wandel seiner Umgebung aufzwingt ... verfällt in eine Angstneurose, in der er nicht einmal mehr den wohlbekannten Pfleger erkennt." Lorenz: Psychologie und Stammesgeschichte (wie Anm. 39), S. 521. Nur einzelne üble Erfahrungen können noch lernend verarbeitet werden.
[48] Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt/M. 1982. S. 18.
[49] Zu dieser Terminologie vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984. Ich verwende den Begriff 'Sinn' in der Luhmannschen Definition hier nur transitorisch. Luhmann hat die Neigung, geläufige Wörter definitorisch so zu 'markieren', daß sie nur noch in seinem Revier verwendbar sind (Kontingenz, Semantik, Appräsentation, Information, Kommunikation ...). Zu den Folgen dieser imperialen Vorgehensweise speziell beim Wort 'Sinn' vgl. Alois Hahn: Sinn und Sinnlosigkeit, sowie Georg Lohmann: Autopoiesis und die Unmöglichkeit von Sinnverlust. In: Hans Haferkamp und Michael Schmid (Hgg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Frankfurt/M. 1987. S. 155-184.
[50] Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980. S. 35.
[51] Luhmann: Religion, S. 17.
[52] Die privative Wortprägung mit "Nicht-" erscheint dafür am angemessensten. Man könnte auch von 'Utopie' sprechen, aber dieses Wort ist schon anders besetzt, 'Unwelt' würde zu Konfusion mit 'Umwelt' führen, 'Über-' oder 'Hinterwelt', obwohl grundsätzlich nicht unpassend, würden schon bestimmte historische Konkretionen konnotieren.
[53] Zum Gesamtbereich anregend D. E. Berlyne: Aesthetics and Psychobiology. New York 1971.
[54] 'Spannung' ist eine Verlegenheit der Literaturwissenschaft. Wir wissen, daß es das gibt, daß es sogar sehr wichtig ist, aber es fehlt uns an Kategorien, es zu beschreiben oder gar zu erklären. Es wird dann unthematisiert vorausgesetzt und mehr oder weniger elegant umgangen. Z. B. Manfred Pfister: Das Drama. München 1977. S. 142: "Es muß jedoch vorausgeschickt werden, daß im Rahmen unserer Darstellung Spannung nicht primär [?] als Kategorie des Rezeptionsprozesses im äußeren Kommunikationssystem behandelt werden soll, sondern als innertextuelle Relationierung".
[55] Ausführlich Robert Fagen: Animal Play Behavior. New York/Oxford 1981, bes. S. 278-358. Hier auch eine Erklärung der seltenen Spiele erwachsener Tiere, S. 438-445.
[56] Zum Konzept 'Erregung' insgesamt vgl. N. Bischof (wie Anm. 8). Zum Hervorrufen und Dämpfen von Erregung (arousal) im Bereich der Kunst im weiteren Sinn vgl. D. E. Berlyne (wie Anm. 53).
[57] 'Lust' ist ein problematischer Begriff, denn das innere Erleben der Tiere ist uns noch weniger zugänglich als das unserer Mitmenschen. Doch läßt sich der Begriff operationalisieren. Die Hirnforschung hat zu der gut begründeten Vermutung geführt, daß es im Hirn ein 'Belohnungssystem' gibt, das insbesondere mittels körpereigener Opiate (Endorphine) wirkt. Vgl. z. B. Richard F. Thompson: Das Gehirn. Heidelberg 1990. S. 26. 'Lust' hätte damit ein neurophysiologisches Korrelat. Lust am Explorierungsspiel: "Dem Explorierungsverhalten scheinen eigene Neuronen zugeordnet zu sein. B. R. Komisaruk und J. Olds (1968) leiteten von einzelnen Neuronen im lateralen Hypothalamus und in der preoptischen Region der Ratten elektrische Aktivität ab, wenn die Tiere explorierten. Elektrische Reizung dieser Orte ist lustbetont, denn Ratten lernen, einen Hebel zu drücken, wenn sie sich dadchch in dieser Region selbst reizen können." Eibl-Eibesfeldt: Grundriß (wie Anm. 2), S. 402. Nähere Ausführungen zu den Oldsschen Experimenten und zum 'Lust-' und 'Belohnungssystem' bei Gerald Wolf: Das Gehirn. München 1992. S. 182-191.
[58] Der Begriff wurde geprägt von Gustav Bally: Vom Ursprung und von den Grenzen der Freiheit. Basel 1945.
[59] Desmond Morris: Das Spiel. Faszination und Ritual des Fußballs. München/Zürich 1981, geht leider nicht ernsthaft auf ethologische Grundlagen ein. Die Parallelisierung mit Stammesritualen bleibt assoziativ und feuilletonistisch.
[60] Für Johan Huizinga: Homo Ludens. Basel/Brüssel/Köln/Wien o. J. (Erstausgabe 1938), ist das Spiel mit Zuschauer anscheinend so selbstverständlich, daß er es nicht eigens problematisiert. Mir scheint überhaupt, daß in der Literatur zum Phänomen des Spiels die Besonderheit eines Spiels mit Zuschauer zu wenig beachtet wird.
[61] Heide Sbrzensy: Die Spiele der !Ko-Buschleute. München/Zürich 1976, hat die Rolle der Zuschauer nicht eigens thematisiert. Es hat aber den Anschein, daß Zuschauer sich bei den Spielen dieses Jäger- und Sammlervolkes nur dann bilden, wenn es sich um geschlechts- oder altersspezifische Spiele handelt, also bestimmte Personen von der aktiven Teilnahme ausgeschlossen sind. Daß z. B. gesunde junge Männer anderen jungen Männern einfach beim Spiel zusehen, ist nicht belegt.
[62] Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt/M. 1979, hat den Topos des Schiffbruchs verfolgt, der vom sicheren Lande aus beobachtet wird. Vor allem für das 18. Jh. ist es ein Problem, das Interesse an einem solchen Vorgang moralisch zu rechtfertigen. Hier übrigens auch die Übertragung der Konstellation auf das Theater durch den Abbé Galiani, S. 39 f. - Das Fernsehen hat die Katastrophe mit Zuschauer inzwischen alltäglich gemacht.
[63] Ich vermeide den Begriff der Illusion, der wörtlich ja ein Sich-Einspielen bedeutet, aber auch den Bereich unwillkürlicher (Selbst-)Täuschung bezeichnet. Immerhin sind unter dem spezifischen Begriff der ästhetischen Illusion in der Geschichte der Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert immer wieder Doppelungen der Seelenkräfte vorausgesetzt worden, auf die sich das hier Abgehandelte beziehen ließe. Vgl. etwa Moses Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen. In: Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 2. Stuttgart 1972. S. 149-155: "Soll eine Nachahmung schön seyn, so muß sie uns ästhetisch illudiren; die obern Seelenkräfte aber müssen überzeugt seyn, daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sey ... Der Musikus kann uns zornig, betrübt, verzweiflungsvoll u.s.w. machen, und wir wissen ihm Dank für die unangenehmen Leidenschaften, die er in uns erregt hat. Man sieht aber, daß in diesen Fällen das zweite Urtheil: diese Affecten sind nur nachgeahmt, unmittelbar auf den Affect folgen muß, weil sonst die unangenehme Empfindung, die aus dem Affecte entspringt, größer seyn würde, als die angenehme, die eine Wirkung der Nachahmung ist."
[64] Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion. 2. Aufl. Tübingen 1988. S. 53, mit Bezug auf Attrappenversuche mit Tieren (z. B. ein Büschel roter Federn, mit dem ein Rotkehlchen-Männchen in Aggression versetzt wird): Vom "Schmierenstück" bis zur "sublimsten Dichtung" handle es sich um "die bewußte, artifizielle Auslösung bestimmter Gefühlserlebnisse durch von Menschen selbstgeschaffene Attrappen." ±Die von Topitch genannten Beispiele - "die vom Feind bedrohte und vom Helden gerettete Jungfrau, der für den Freund sich opfernde Freund, der Sieg und die Verklärung der eigenen Gruppe und ihrer Normen" - scheinen mir jedoch schon etwas zu weit in kulturelle Dimensionen hineinzuragen. Zumindest mußte man auch eine 'Etage' tiefer nach Auslösern von Anteilnahme wie Brutpflege- und Hilfe-Appelle suchen, die von den 'Attrappen ' ausgehen (gefährdetes Kind, leidende Frau, gefährdete Mitglieder der Wir-Gruppe) oder zur Anteilnahme am Schicksal von Vorbildern, für die wir durch unser Lern- und Sozalisationsverhalten disponiert sind.
[65] Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. München 1977. S. 166. Schon Wolfgang Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. 2. Aufl. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963. S. 96-123, berichtet Ähnliches. Das Aufeinanderstellen mehrerer Kisten habe zwar die größten Probleme bereitet, doch vermutlich nur wegen der damit verbundenen statischen Schwierigkeiten.
[66] Etwa im Sinne der von Arnold Gehlen: Der Mensch. 4. Aufl. Bonn 1950. S. 198, im Anschluß an Palagy formulierten "Definition der Phantasie als ... der Fähigkeit, sich resp. sich und die Dinge, mit denen man ein 'kommunikatives System' bildet, in andere Lagen zu versetzen, als wir selbst und diese Dinge in Wirklichkeit haben."
[67] Die phylogenetische Evolution des Sprachvermögens liegt noch weitgehend im Dunklen. Begründete Hypothesen dazu bei Philip Lieberman (wie Anm. 39).
[68] Ernst Pöppel: Grenzen des Bewußtseins. Stuttgart 1985. S. 71-81. Frederick Turner und Ernst Pöppel: The neural lyre: Poetic meter, the brain and time. In: Poetry. August 1983. S. 277-309. Bei Langversen muß natürlich die Zäsur berücksichtigt werden.
[69] Es gibt dafür sogar Quantifizierungen: Der Informationseinstrom wird auf 109 bits/s (Elementarentscheidungen pro Sekunde) geschätzt, wovon nur 102 bits/s zum Bewußtsein gelangen, der Informationsausstrom auf 107 bts/s. F. Seitelberger: Wie geschieht Bewußtsein? In: Wolfgang Böhme (Hg.): Evolution und Bewußtsein. Herrenalb 1987. S. 9-25. S. 13.
[70] Albert Bandura: Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart 1979. S. 173 f. basiert Denken auf Symbolisierung, die die Dinge neu kombinierbar und damit für Phantasie verfügbar macht: "Durch Manipulation von Symbolen lassen sich Gedanken hervorrufen, die sich möglicherweise auch nicht mehr unmittelbar in äußere Ereignisse übersetzen lassen... Man hat keine Schwierigkeiten, sich Kühe vorzustellen, die über den Mond springen, und Elefanten, die auf Fliegen reiten, obwohl diese Ereignisse sich nicht in Wirklichkeit umsetzen lassen."
[71] Zitate Erhard Oeser und Franz Seitelberger: Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis. Darmstadt 1988. S. 101. - Dualistische Vorstellungen nach dem Muster Sinnlichkeit/Verstand, Affekte/Vernunft gehen zurück bis auf den griechischen 'Pathos'-Begriff. In diesem Modell werden aber zu wenig der 'limbische' Gefühlsappell und die 'neokortikale' Umweltinformation unterschieden, beide gehen ein in den Begriff der 'Sinnlichkeit'. Für bestimmte Zwecke wäre ein triadisches Modell nützlicher: Ältere wie jüngere Hirnfunktionen haben die 'äußere' Wirklichkeit zur Umwelt; die älteren und jüngeren Hirnfunktionen sind sich aber auch gegenseitig Umwelt.
[72] Hierzu besonders Detlev Ploog: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Mensch und Tier. In: Psychobiologie (Reader, wie Anm. 2), S. 298-308, sowie allgemein K. R. Scherer und W. Wallbolt (Hg.): Nonverbale Kommunikation. Weinheim 1977.
[73] Eibl-Eibesfeldt: Biologie (wie Anm. 2), S. 860, teilt das Lied einer Eipo-Frau mit, in dem diese sich eines Liebeserlebnisses erinnert. Es mag als Beleg dienen (die "Frösche" sind das Grasröckchen der Frau):
Bruder des wirye-Vogels, Bruder des cang-Baums, Bruder des dikle-Baums
Der wirye-Vogel liegt mir nah am Nabel.
Meine Falle ist dabei zu quetschen, meine Falle ist dabei zu fangen.
Der wirye-Vogel bleibt hängen an meinem Nabel,
das cang-Holz liegt auf meiner Scham.
Nachdem ich den mokmokana-Frosch weggenommen habe,
nachdem ich den toktokana-Frosch weggenommen habe.
Auf der Scham liegend, am Nabel festhakend, hakt er sich mir fest.
[74] Robert Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek b. Hamburg 1978. S. 1147. Die Formulierung weist sich durch das "vorläufig" als spezifisch modern aus.
[75] Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd. 12. 7. Aufl. München 1975. S. 406.
[76] Zu derartigen Beobachtungen vgl. Sylvia Scribner: Modes of thinking and ways of speaking: culture and logic reconsidered. In: Philip N. Johnson-Laird und Peter C. Wason (Hgg.). Thinking. Readings in Cognitive Science. Cambridge u.a. 1977. S. 483-500. Man muß bei solchen Geschichten allerdings immer mitbedenken, daß es sich einfach um höfliche Abwehr des aufdringlichen Fragers handeln kann.
[77] Funktion der Religion (wie Anm. 48), S. 48.
[78] Der Verfremdungs-Begriff des Russischen Formalismus war zwar erhellend, aber nur in engen Grenzen erklärend: Letztlich basierte er auf einer einfachen Reiztheorie; die Abweichungen sollten die Aufmerksamkeit erregen. Das ist sicher nicht falsch und fügt sich zur Erregungs-These, aber die sematische Dimension von Verfremdung ist dadurch nicht erfaßt.
[79] Goethe: Maximen und Reflexionen, S. 471.
[80] Peter Bürger: Institution Literatur und Modernisierungsprozeß. In: Peter Bürger (Hg.): Zum Funktionswandel der Literatur. Frankfurt 1983. S. 9-32. S. 29. Der Hinweis bleibt allerdings blind, da Bürger keinen präzisen Hinweis auf die Funktion von Religion gibt, offenbar weil sich diese im ideologiekritischen Kontext irgendwie von selbst versteht.
[81] Es bedarf vielleicht des Hinweises, daß die Systemtheorie Luhmannscher Prägung hier generell weniger als erklärende Theorie aufgefaßt wird, sondern als weitgehend tautologisch konstruiertes Modell, das von Fall zu Fall heuristisch gemolken werden soll.
[82] Unerörtert bleibe an dieser Stelle, ob solche Dichtung nicht nur ein programmatisches Konstrukt von Dichtungstheoretikern ist, die damit auf den dauernden Legitimationsdruck reagieren, unter dem Dichtung seit Plato steht. An das 'Delectare', auf das auch sie nicht verzichten kann, knüpft sich vermutlich automatisch ein Verweisungspotential, dessen Aktualisierung allerdings stark von den Rezeptionskontexten abhängig ist. Man kann die Fabeln Lessings durchaus mit einem Blick lesen, der sie in die Nähe der Tiergeschichten Kafkas rückt.
[83] Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 5. München 1973. Von dem Wesen der Fabel, S. 385.
[84] Derlei führt der derzeitige 'Dekonstruktivismus' selbst aktiv durch: Dem Text sollen (mindestens) zwei 'Lektüren' zugeschrieben werden, deren jede in sich kohärent ist, die andere voraussetzt, aber zugleich denunziert. Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M. 1988. Das Problem von 'Deconstruction' ist, daß das ja bereits von den Dichtern gemacht wurde und wir vielleicht besser daran täten, es zu erklären, statt es auf eigene Rechnung weiterzubetreiben.
[85] Literaturgeschichte als Problemgeschichte. In: R. Unger: Gesammelte Studien. Bd. 1. Darmstadt 1966. S. 137-170.
[86] Gregory Bateson: The message "This is play". In: B. Schaffner (Hg.), Group Processes, New York 1956. S. 145-246, erhebt das gar in den Rang einer "Metakommunikation".
[87] An Wilhelm von Humboldt, 17. März 1832.


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