IASL online Forum. SCHEIDELER: Intellektuelle

IASL Diskussionsforum online
Geschichte und Kritik der Intellektuellen

Leitung: Britta Scheideler


Jost Schneider
Selbst- und Fremdwahrnehmung der Intellektuellen in einer pluralistischen Gesellschaft


Abstract

In den demokratisch-pluralistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts kommt es aus bildungs- und sozialgeschichtlichen Gründen zu einer Diversifizierung des Begriffes >Intellektueller<. Es gibt nicht mehr den Intellektuellen, sondern fünf verschiedenartige Intellektuellenkonzepte, und zwar den wirklichkeitsfernen, den journalistischen, den kritischen, den diskursstiftenden und den anonymen Intellektuellen. Nicht alle diese Konzepte können von allen Positionen im sozialen Raum aus wahrgenommen werden. So können heute mehr Menschen für Intellektuelle gehalten werden, die sich selbst nicht als solche verstehen; und umgekehrt können sich mehr Menschen selbst als Intellektuelle verstehen, die in der Öffentlichkeit nicht als solche erkannt werden.

Inhalt

  1. Das Unsichtbarwerden des kulturellen Kapitals
  2. Die fünf Intellektuellenkonzepte der Gegenwart
  3. Vorteile der Diversifizierung des Intellektuellenbegriffes


Das Lexem >Intellektueller< besitzt ein obligatorisches und mehrere fakultative semantische Merkmale. Kritische Grundhaltung, politisches Engagement, geistige Autonomie oder öffentliche Wirksamkeit sind – wie die von Dietz Bering rekapitulierte Begriffsgeschichte ausweist 1 – fakultative Begriffsmerkmale, die nur in einigen Epochen, Gesellschaftsschichten und Denkschulen Geltung besaßen. Obligatorisch ist hingegen das semantische Merkmal >höhere Bildung / Gelehrtheit<.

Allerdings ist in unserer pluralistischen Gesellschaft auch dieses obligatorische Merkmal des Begriffes in kommunikationspragmatischer Hinsicht problematisch geworden, und zwar deshalb, weil sich Bildung / Gelehrtheit nicht mehr adäquat und zuverlässig kundmachen läßt. Beobachter mit unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum interpretieren nicht die gleichen Phänomene als Indikatoren für höhere Bildung und Gelehrtheit. Die fakultativen, in der Regel eindeutiger und einheitlicher identifizierbaren Merkmale des Begriffes >Intellektueller< werden deshalb – vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung (Massenmedien) – häufig übergewichtet. Das obligatorische semantische Merkmal gilt weiterhin, doch da der Sachverhalt, den es denotativ bezeichnet, nicht von allen Beobachtern in gleicher Weise wahrgenommen wird, kommt es in praxi zu einer Diversifizierung in der Begriffsverwendung.

1. Das Unsichtbarwerden des kulturellen Kapitals

Die Ursachen dieses Phänomens und seine Konsequenzen für die Selbst- und die Fremdwahrnehmung der Betroffenen werden deutlich, wenn man Bourdieus Differenzierung zwischen objektiviertem, institutionalisiertem und inkorporiertem kulturellen Kapital 2 aufgreift, um zu veranschaulichen, weshalb das obligatorische Begriffsmerkmal >höhere Bildung / Gelehrtheit< in einer pluralistischen Gesellschaft, wie sie sich in Deutschland – von der Unterbrechung durch den Faschismus abgesehen – seit Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, nicht mehr als zuverlässiges Erkennungsmerkmal fungieren kann.

  • Objektiviertes kulturelles Kapital
Hierunter versteht Bourdieu kauf- und verkaufbare Kulturobjekte mit einem erhöhten Distinktionswert wie z.B. anspruchsvolle Bücher, Bilder, Musikinstrumente, Skulpturen und dergleichen. Die Möglichkeit, mit Hilfe derartiger Objekte Intellektualität kundzumachen, wird aus zwei – schon vielfach analysierten – Gründen zunehmend erschwert.

Erstens verzeichnen wir im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit fast aller Kulturgüter (Benjamin) eine Popularisierung derartiger Objekte. Die Insignien des >legitimen<, höhere Bildung indizierenden Geschmacks sind verbreiteter, als dies noch in den 60er Jahren der Fall war, in denen die statistischen Erhebungen für Bourdieus Feine Unterschiede durchgeführt wurden. Die Unterschiede sind zwar keineswegs verschwunden, aber aufgrund einer unübersichtlicheren Ausdifferenzierung des sozialen Raumes sehr viel feiner und damit schwerer wahrnehmbar geworden.

Noch ein zweiter Faktor verstärkt diesen Trend zur Unübersichtlichkeit, nämlich die professionalisierte kommerzielle Ausnutzung des Distinktionswertes >legitimer< kultureller Objekte. Überfüllte Museumsshops, Musicalaufführungen in vermieteten städtischen Schauspielhäusern und Stadionkonzerte mit Startenören belegen, daß es inzwischen eine eigene Industrie gibt, die den Verkaufswert kultureller Legitimität erkannt hat. 3 Die Akkumulation objektivierten kulturellen Kapitals ist in dieser Situation ein immer unzuverlässigeres Mittel, um höhere Bildung kundzumachen.

Die Unterschiede sind so fein geworden, daß eine permanente, ja geradezu eine professionelle Beschäftigung mit der >Kulturszene< erforderlich ist, um den aktuellen Legitimitätsgrad und damit das Distinktionspotential einer Lithographie, eines Möbeldesigns, einer Klaviermarke oder einer Werkedition bestimmen zu können.

  • Institutionalisiertes kulturelles Kapital

Hierunter versteht Bourdieu alle Zertifikate legitimer Erziehungsinstitutionen wie z.B. Schul- und Studienabschlüsse, akademische Titel oder staatlich anerkannte Berufsbezeichnungen (Architekt, Rechtsanwalt, Professor).

Im Zuge der Bildungsexpansion der 60er Jahre haben derartige Zertifikate und Patente – wie Bourdieu selbst in Die feinen Unterschiede und Homo academicus en détail zeigte – eine nachhaltige Abwertung erfahren; diverse Juristen-, Lehrer- und Ärzte->Schwemmen< haben einer breiten Öffentlichkeit verdeutlicht, daß gute und höhere Schulabschlüsse heute eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für den Berufserfolg und für eine superiore Position im sozialen Raum darstellen.

Darüber hinaus hat die Diversifizierung der Bildungsabschlüsse zu einer stärkeren Intransparenz der Bildungshierarchien geführt. Und auch das Profil der verschiedenen Ausbildungsstätten ist infolge ihres Ausbaus zu Massenbetrieben unschärfer geworden. Ob ein bestimmtes Fach in einem bestimmten Augenblick besser an dieser oder jener Universität zu studieren ist, wird in einem rezidivierenden Ranking ermittelt, das die ursprüngliche Hierarchie, die auf Anciennität und innerfachliche Reputation gegründet war, korrigiert und dynamisiert.

Auch die Akkumulation institutionalisierten kulturellen Kapitals ist in dieser Situation kein probates Mittel, um Intellektualität kundzumachen. Mit einem akademischen Titel wird man zwar noch zur Bildungsschicht gerechnet, doch diese Schicht ist heute – zum Glück – dermaßen groß und heterogen, daß dies nur noch wenig besagt, sofern man den Begriff >Intellektueller< nicht zu einem (sprachökonomisch überflüssigen) Synonym für >Akademiker< umfunktionieren will.

  • Inkorporiertes kulturelles Kapital

Die zuvor beschriebenen Phänomene sind seit längerem bekannt. Sie betreffen jedoch nur die >äußerlichen< Aspekte des Phänomens der Intellektualität und könnten deshalb als marginal aufgefaßt werden. Tatsächlich ist die Versuchung groß, Intellektualität heute ausschließlich unter Rekurs auf das inkorporierte kulturelle Kapital zu definieren, das nach Bourdieu die >verinnerlichte<, d.h. nicht kauf-, (ver)erb- oder zertifizierbare Bildung darstellt.

Mehrere Dimensionen dieser Form des Kulturkapitals lassen sich unterscheiden, von denen hier im Hinblick auf die Intellektualitätsproblematik nur die Universalgelehrtheit (Kenntnisreichtum, hohe Allgemeinbildung), das Denkvermögen (Scharfsinn, Intelligenz), die geistige Flexibilität (erhöhte Auffassungsgabe), das Urteilsvermögen (intellektuelle Autorität, >Weisheit<) und die Sprachbewußtheit (sprachkritisch-selbstreflexiver Ausdrucksstil) hervorgehoben seien.

Auch die Wahrnehmung dieser und ähnlicher, nicht->äußerlicher< Eigenschaften des Intellektuellen ist in der Gegenwartsgesellschaft erschwert. Und einige dieser Eigenschaften erfahren sogar tendenziell eine Neu-, d.h. Negativbewertung. Dies sei im Hinblick auf die fünf genannten Dimensionen kurz erläutert.

  1. Was zunächst die Eigenschaft der Universalgelehrtheit betrifft, so gilt diese bei inzwischen vollständig durchgesetzter Arbeitsteilung und Spezialisierung nicht nur als Anmaßung, sondern geradezu als Ausdruck der Rückständigkeit. An die Stelle des alle Wissensbestände in einem >System< integrierenden Philosophen tritt der spezialisierte >information broker<, der sich eher als Experte für Suchmaschinen denn als Universalist definiert. In einer Zeit, in der die Beschaffung von Informationen kein gründliches Verständnis dieser Informationen mehr erfordert, scheint der Universalgelehrte objektiv entbehrlich zu sein.

  2. Von ungewöhnlichem Scharfsinn erhofft man sich in einer arbeitsteiligen Expertenkultur keine Problemlösung, sondern Unterhaltung. Intelligenz ist eine Quizshowattraktion, die zudem – unter Bedingungen eines boomenden Biologismus – als genetisches Privileg vom Rang einer athletischen Statur oder einer schönen Stimme aufgefaßt wird.

    Wie der Erfolg von Daniel Golemans Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ (New York 1995) veranschaulicht, kann besonderer Scharfsinn sogar als problematische Monstrosität erscheinen, die ein emotionales Gegengewicht erfordert: Das tabuärmere kreative Denken der Intelligenz->Bestie< wird zu einer unberechenbaren Gefahr, die unterhaltsamen Nervenkitzel für das Talk- und Quizshowpublikum verspricht.

  3. Eine erhöhte Auffassungsgabe wird im Zeitalter der Globalisierung als allgemeine Schlüsselqualifikation und als geldwerter Vorteil im Konkurrenzkampf wahrgenommen. Geistige Flexibilität ist lediglich ein Spezialaspekt jener 1998 von Richard Sennett beschriebenen 4 allgemeinen Flexibilität, die in der >Kultur des neuen Kapitalismus< nicht nur den Intellektuellen, sondern tendenziell jedermann abverlangt wird. Ständig wechselnde Arbeitsplätze, Wohnorte, >Lebensabschnittspartner< und Bezugsgruppen erfordern eine intellektuelle Beweglichkeit, die kein auszeichnendes Merkmal bestimmter Bildungsschichten und vor allem kein selbstzweckhaftes Erziehungsideal mehr sein kann.

    Je nach individueller Einstellung zu dieser >Kultur des neuen Kapitalismus< wird man in der geistigen Flexibilität bestenfalls eine notwendige Tugend im ökonomischen Konkurrenzkampf, vielleicht aber sogar mehr und mehr eine fragwürdige Anpassungsleistung erkennen.

  4. Die Autorität des besonders urteilsfähigen, weitsichtigen, >weisen< Gelehrten wird unter den Bedingungen eines allgemeinen kognitiven und erkenntnis- bzw. wahrheitstheoretischen Relativismus unterhöhlt oder gar als Anmaßung empfunden. Da im Zeitalter des Pluralismus jedem Gutachter auf dem Fuß ein Gegengutachter folgt, schwindet das Vertrauen in die Autorität des Gelehrten, geriere er sich nun als Universalist oder als Spezialist. Wo die wissenschaftliche Wahrheit (den Sachunkundigen) folgerichtig als Ansichtssache gilt, rückt dann der emotionale Aspekt des >Streites< um die Wahrheit, die nur noch ein Rechtbehalten ist, in den Vordergrund.

    Die Goldhagen-Debatte kann als Musterbeispiel für die medial-ökonomisch verwertete, dramatische Aufbereitung einer wissenschaftsintern längst entschiedenen Kontroverse gelten, bei der ein David in den aussichtslosen, aber leidenschaftliche Anteilnahme erweckenden Kampf gegen den Goliath des akademischen Establishments geschickt wurde. Die erhöhten Sympathiewerte des Außenseiters verdanken sich hierbei anscheinend weniger der wissenschaftlichen Plausibilität seiner Thesen als dem Umstand, daß er das populär-gegenwartstypische Dogma des Relativismus – gewiß nolens volens! – in einen der letzten für diesen Relativismus gesperrten Bereiche hineinzutragen vermochte.

  5. Der sprachkritisch-selbstreflexive Ausdrucksstil des sich der Kommunikationsmöglichkeiten und ihrer Grenzen bewußten Intellektuellen wird zunehmend mit dem charakteristischen Stil der Subjektivität und der >Authentizität< gleichgesetzt und verwechselt. Intime Bekenntnisse auf Talkshowsofas werden in jener fragmentierten, tastenden, viele metasprachliche Elemente enthaltenden Diktion formuliert, die auch ein Anzeichen intensivierter Sprachbewußtheit sein kann.

    Und gleichzeitig sind für den Gebildeten zwei davon abweichende Ausdrucksstile reserviert, die einer Intellektualität älteren Typs keine adäquate Erscheinungsmöglichkeit bieten, nämlich erstens die distinguierte und rasant vorgetragene Expertensuada, die einen bremsenden, Fremdwörter und Fachvokabular übersetzenden Moderator verlangt, und zweitens der geistreich-witzige Stil des routinierten >Querdenkers<, der nach dem Prinzip der gelösten Zunge unterhaltsame Denkabweichungen und kontrollierte Tabuverletzungen produziert.

    Wer diese Stilangebote nicht aufgreift und die von Sprachkritik und -bewußtheit geprägte Diktion eines traditionelleren Intellektualismus verwendet, muß damit rechnen, als Subjektivist wahrgenommen zu werden, dessen Worte nicht auf Allgemeinverbindlichkeit und wissenschaftliche Wahrheit, sondern auf die authentische Artikulation ganz persönlicher Schwierigkeiten zielen. Groteske Mißverständnisse können entstehen, wenn der Befragte die ihm routiniert entgegengebrachte Verständnis- und Hilfsbereitschaft dann auch noch als Anzeichen intellektueller Gefolgschaft mißdeutet ...

Als Zwischenfazit läßt sich an dieser Stelle konstatieren, daß das inkorporierte kulturelle Kapital heute nicht mehr zuverlässig kundgemacht und zur Geltung gebracht werden kann. Zwar üben sich viele in der Akkumulation oder gar Maximierung dieser Form des kulturellen Kapitals, dessen Bedeutung als notwendige Karrierevoraussetzung außer Frage steht, doch unter den beschriebenen Bedingungen will dies nicht mehr viel besagen. Der Intellektuelle läßt sich heute nicht mehr zuverlässig identifizieren, und zwar auch und gerade dann, wenn man auf das obligatorische semantische Merkmal dieses Begriffes rekurriert.

2. Die fünf Intellektuellenkonzepte der Gegenwart

Aus den dargestellten Problemen resultiert keine völlige Entkonturierung, sondern nur eine Diversifizierung der Bedeutung des Begriffes >Intellektueller<. Es gibt nicht mehr den Intellektuellen, sondern mehrere verschiedene – nachfolgend vorzustellende – Intellektualitätskonzepte, die mit diesem Begriff verknüpft werden können. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft ist dabei allerdings nicht jeder sein eigener Intellektueller; zum Intellektuellen kann man sich nicht selbst erklären, man wird von anderen unter Anwendung eines der virulenten Intellektualitätskonzepte dazu >ernannt<.

Welches dieser Konzepte wann und von wem in Anschlag gebracht wird, hängt wesentlich – so meine These – von der Position des Urteilenden im sozialen Raum ab, d.h. von seiner Kapitalstruktur im Sinne Bourdieus.

In der breiteren Öffentlichkeit, speziell in den selbst über relativ wenig kulturelles Kapital verfügenden Gesellschaftsschichten, dominieren jene Konzepte, in denen die leichter erkennbaren, fakultativen Begriffsmerkmale sowie das institutionalisierte Kulturkapital die wichtigste Rolle spielen. Für die Intellektualitätskonzepte der Bildungsschichten sind dagegen das institutionalisierte und vor allem das >unsichtbarere< inkorporierte kulturelle Kapital von größerer Bedeutung. Da die beiden Gesellschaftsschichten nicht ganz scharf voneinander getrennt sind, gibt es insgesamt ein buntes, die Ausdifferenzierung des sozialen Raumes widerspiegelndes Spektrum an Intellektuellen- bzw. Intellektualitätskonzepten.

Die Definition des Begriffes >Intellektueller< ist – entgegen der von Georg Jäger gleich zu Beginn seines Artikels Der Schriftsteller als Intellektueller formulierten These – in einer pluralistischen Gesellschaft also nicht mehr aus der alleinigen Analyse des Diskurses der Intellektuellen selbst zu gewinnen, die eben keine ausschließliche Definitionsmacht in dieser Frage besitzen. Dabei ist zusätzlich davon auszugehen, daß die Intellektualitätskonzepte bildungsfernerer Schichten keinesfalls wirkungsärmer als diejenigen kompetenterer Begriffsbenutzer ist.

Obwohl im Prinzip nur aufwendige Feldforschungen Aufschluß über die in den verschiedenen Fraktionen des sozialen Raumes dominierenden Intellektualitätskonzepte geben können, sei hier doch eine vorläufige Typologie derartiger Konzepte, von denen die meisten eine komplizierte und reichhaltige Genealogie aufweisen, ausformuliert und zur Diskussion gestellt. Soweit ich sehe, koexistieren seit Ende der 1960er Jahre fünf unterschiedliche Varianten, von denen zwei in bildungsferneren (A) und zwei in gebildeteren (C) Milieus dominieren. Das dritte Konzept, dasjenige des >kritischen Intellektuellen< (B) findet in beiden – hier nur grob voneinander abgegrenzten – Milieus Verwendung und Beachtung.

A 1
Der wirklichkeitsferne Intellektuelle

Dieses besonders plakative, aber keineswegs seltene Konzept des Intellektuellen begegnet uns heute überwiegend als Figur in Unterhaltungsfilmen oder ähnlichen Erzeugnissen der Massenmedien. Es läßt sich im Prinzip jedoch bis zu Lessings Typenkomödie Der junge Gelehrte (Uraufführung 1748) zurückverfolgen und beinhaltet hauptsächlich die Erkennungsmerkmale der Praxis- und Körperferne, des akademischen Titels (oft: >der Professor<) und der hintersinnig-rätselhaften Sprache. Häufig benutzte Requisiten sind außerdem eine auffällige Brille, zerzauste Haare und skurril-exzentrische Bekleidung.

In seiner positiven Variante figuriert die Verkörperung dieses besonders klischeehaften (und von Alfred Sohn-Rethel 5 wirtschaftsgeschichtlich hergeleiteten) Konzeptes als zerstreuter, aber liebenswerter Bewohner des Elfenbeinturmes, wie ihn etwa Professor Abronsius aus Polanskis Dance of the Vampires repräsentiert. In seiner – besonders von den Nazis aufgegriffenen und in Teilen noch von Schelsky 6 funktionalisierten – Negativvariante erscheint dieser Typus als Nichtsnutz, dessen Bildungsdünkel und selbstzweckhaftes Denken ihn zum Sonderling und Außenseiter stempelt.

A 2
Der journalistische Intellektuelle

Dieses Konzept wird ebenfalls hauptsächlich in den Massenmedien inszeniert, und zwar beispielhaft durch Moderatoren und (Stamm-)Gäste bei öffentlichen und medial verwerteten Diskussionsveranstaltungen oder Talkshows. Es ist wegen dieses Medienbezuges relativ neu und beinhaltet Eigenschaften wie eine besondere Flexibilität in der Adaption an unterschiedlichste Gesprächspartner und -situationen sowie eine verständlich-prägnante, oft auch witzige oder ironische Sprache.

Vertreten und realisiert wird dieses Konzept häufig durch Journalisten und Essayisten, aber auch durch >Querdenker< aus allen Lagern und Professionen, die ein erhöhtes Maß an geistiger Eigenständigkeit und Unabhängigkeit für sich beanspruchen. Sie liefern zuverlässig und regelmäßig stimulierend-unterhaltsame Denkanstöße und demonstrieren intellektuelle >Brillanz<, wobei sie in kontrolliertem Ausmaß auch gegen Tabus verstoßen dürfen.

Im Hinblick auf öffentliche Resonanz gebührt diesem Intellektuellenkonzept, dem in Deutschland beispielsweise Marcel Reich-Ranicki, Roger Willemsen, Johannes Gross oder Alice Schwarzer zuzuordnen wären, der oberste Rang.

B
Der kritische Intellektuelle

Hinter diesem seit Voltaire bekannten Konzept steckt die am deutlichsten von Gehlen 7 beschriebene Rolle des engagierten Kämpfers für Werte wie Toleranz, Chancengleichheit, Humanität, Aufklärung, sozialen Frieden u.ä. Öffentlich demonstrierte Zivilcourage und – durch Konsumverzicht oder unkonventionelles Betragen manchmal auch äußerlich kundgemachte – Selbstlosigkeit verleihen ihm eine Legitimität, die, wie schon Lepsius betonte, 8 nicht unbedingt seiner jeweiligen sachlichen Kompetenz zu entsprechen braucht.

Größere Wirksamkeit erlangen seine Einsprüche und Mahnungen heute allerdings nur in einem günstigen publizistischen Umfeld, d.h. in Situationen, in denen es die Medien – aus welchen Gründen auch immer – für angeraten halten, einen (angeblichen) Meinungsführer vorzuschieben und seine Kritik an diesem oder jenem Mißstand vorübergehend zu einer Angelegenheit von allgemeinem Interesse zu erklären. Da inzwischen viele Künstler und Wissenschaftler, die dieses Konzept potentiell realisieren könnten, diesen Mechanismus durchschaut haben, lassen sich viele nur noch ungern, selten und vorübergehend in eine entsprechende Rolle hineindrängen.

Gleichwohl wird in Krisensituationen nach wie vor der Ruf nach diesem Typus des Intellektuellen, wie ihn etwa Simone de Beauvoir oder Heinrich Böll verkörperten, laut, nach einem Intellektuellentypus mithin, dessen immer häufigeres Schweigen heute auch in Bildungsschichten noch nicht durchgängig als professionelle widerständige Reaktion auf eine medienökonomisch motivierte Instrumentalisierung >moralischer Instanzen< akzeptiert wird.

C 1
Der diskursstiftende Intellektuelle

Dieses seit Entstehung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert bekannte Konzept meint die Begründer eigener Denkschulen, wissenschaftlicher Paradigmen oder Weltanschauungen, die in der Regel ein Maximum an institutionalisiertem Kulturkapital besitzen und zum akademischen oder künstlerischen Establishment gehören, die aber auch in Kontaktdisziplinen wahrgenommen sowie gelegentlich in anspruchsvollen nicht-fachlichen Periodika zitiert werden. Breitenwirkung wird ihnen jedoch nicht zuerkannt, da ihre Sprache reich an Fremdwörtern und Fachvokabular, ihr Zugang zu den Massenmedien begrenzt und die Alltagsrelevanz ihrer Arbeit für viele ihrer (potentiellen) Rezipienten nicht erkennbar ist.

Als Beispiele für diesen Typus ließen sich Julia Kristeva, Karl Popper, Niklas Luhmann oder Theodor W. Adorno anführen.

C 2
Der anonyme Intellektuelle

Dieses mit der Bildungsexpansion der 1960er Jahre und der daraus resultierenden Inflation aller Bildungsprädikate entstandene Konzept erfaßt Gelehrte mit nur leicht überdurchschnittlichem institutionalisierten, gleichzeitig aber maximalem inkorporierten Kulturkapital – einem Kapital, das aus den oben dargestellten Gründen nicht zuverlässig kundgemacht werden kann, so daß Geltung und Wirkung dieser Intellektuellen auf einen engen, privat-kollegialen Kreis begrenzt bleiben. Durch persönliche Begegnungen und durch das Hörensagen können sie ihre Reputation in Freundes- oder Fachkreisen ausbauen, ohne jedoch (trotz – horribile dictu – des als Publikationsforum für sie besonders attraktiven und geeigneten Internet) zu echter Breitenwirkung zu gelangen.

Da ihre universale Bildung de facto nur partiell, in der Regel in beruflichen Kontexten, Anerkennung findet, haben sie eine natürliche Neigung zu einseitigen und überschwenglichen Bildungsideologien, die eine >freischwebend<- autonome Geistesbildung zum Nonplusultra der menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten stilisieren, bzw. zur spielerisch-ironischen Teilidentifikation mit Rollenkonzepten der Typen A 1, A 2 und B, die eine größere Identifizierbarkeit und damit die Chancen auf breitere öffentliche Anerkennung gewährleisten.

Die Abfolge dieser fünf Intellektuellenkonzepte soll keine Hierarchie etablieren oder widerspiegeln. Vielmehr ist zu unterstreichen, daß von bestimmten Positionen im sozialen Raum aus nur bestimmte Konzepte und ihre (mehr oder minder vollkommenen) Realisationen wahrgenommen werden können, so daß die Bedeutung des Terminus >Intellektueller< je nach Standort des Sprechers variiert.

Diese Standorte sind zwar nicht ohne weiteres veränderbar, in unserer pluralistischen Gesellschaft jedoch auch nicht ein für allemal angeboren. Erhöhte soziale Mobilität und die Demokratisierung der Bildung machen es wahrscheinlich, daß der Einzelne im Laufe seines Lebens mit verschiedenen Übergangs- und Mischformen zwischen den fünf Konzepten konfrontiert wird und demgemäß seine Begriffsdefinition differenzieren und diversifizieren muß.

Wie hier deutlich wird, existiert eine Wechselwirkung zwischen den Konzepten und ihren Realisationen. Zwar lassen sich Konzepte bis zu einem gewissen Grad unterlaufen oder miteinander vermischen, doch besonders im Hinblick auf seine Positionierung im sozialen Raum unterliegt der Einzelne einem unbestreitbaren Anpassungsdruck. Da Individuen nur durch den Filter (mindestens) eines der genannten fünf Konzepte als Intellektuelle wahrgenommen werden, müssen sich zumindest die Vertreter derjenigen Berufe, die einen Intellektualitätsnachweis erfordern, unter normalen Voraussetzungen mit einer dieser fünf Rollen identifizieren.

Diese Identifikation braucht jedoch keine totale zu sein. Es macht den besonderen Reiz und Vorzug einer pluralistischen Gesellschaft aus, daß sie das Individuum nur zeitweise bzw. kontextabhängig auf bestimmte Rollen festlegt und ihm ansonsten eine – wenn auch begrenzte – Freiheit zugesteht.

3. Vorteile der Diversifizierung des Intellektuellenbegriffes

Widmen wir uns zum Schluß noch der Frage, ob eine Vereinheitlichung der fünf Intellektualitätskonzepte möglich und wünschenswert wäre. Bilden die Intellektuellen – im Sinne Bourdieus – eine virtuelle Klasse, die durch Ausbildung eines adäquaten >Klassenbewußtseins<, durch das >Mysterium des Ministeriums< 9 (Gefolgschaft) oder durch gemeinsame Aktionen zu einigen wäre?

Die Antwort auf diese Frage kann im Hinblick auf die seit der Jahrhundertwende fortschreitende, in der Postmoderne zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangte Pluralisierung der Gesellschaft nur negativ sein. 10 Höchstens im Gefolge einer revolutionären Entdifferenzierung der Gesellschaft, wie sie etwa im >Dritten Reich< versucht wurde, könnte ein derartiger Prozeß in Gang gesetzt werden. Eine Homogenisierung des Intellektuellenbegriffes ist demnach zwar möglich, aber nicht wünschenswert.

Der Intellektuelle ist tot, aber die Intellektuellen sind – wie auch im Hinblick auf die insgesamt segensreichen Folgen der Bildungsexpansion zu konstatieren bleibt – lebendiger und zahlreicher denn je. Allerdings können mehr Menschen für Intellektuelle gehalten werden, die sich selbst nicht als Intellektuelle verstehen. Und umgekehrt können mehr Menschen sich als Intellektuelle verstehen, ohne in der öffentlichkeit als solche erkannt oder wahrgenommen zu werden.

Die heutige Aufgabe der sich selbst als Intellektuelle Wahrnehmenden ist es in dieser Situation nicht, in gekränktem Ton die im Pluralismus nicht mehr realisierbare Anerkennung durch sämtliche Fraktionen des sozialen Raumes einzuklagen, sondern die bildungs- und gesellschaftsgeschichtlichen Ursachen möglicher Differenzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erkennen.

Damit kann vermutlich nicht erreicht werden, daß atavistische Ressentiments mobilisierende Klischees wie das Konzept des wirklichkeitsfernen Intellektuellen ganz aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwinden. Doch es kann für die Etablierung eines neuartigen Intellektuellentypus gestritten werden, der weiß, welche Intellektualitätskonzepte er in welchen Situationen realisieren kann und will – und welche nicht.

Die zeitlich befristete und – soweit möglich – selbstbestimmte Übernahme wechselnder Rollen hat hierbei zumindest den Vorzug, die einzelnen Intellektuellen vor unzeitgemäßen, pathetisch-existentiellen und unflexiblen Selbstdefinitionen zu schützen, die zwar eine stabile Identität garantieren, die aber auch zu einem Panzer werden können, in welchem ein Mensch mit seinen nicht nur intellektuellen Bedürfnissen à la longue leicht erstickt.


PD Dr. Jost Schneider
Ruhr-Universität Bochum
Germanistisches Institut
GB 4/58
D-44780 Bochum

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Anmerkungen

1 Bering, Dietz: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart 1978. zurück

2 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital [1983]. Aus d. Französ. von Reinhard Kreckel. In: P.B.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hg. von Margareta Steinrücke. Unveränd. Nachdr. d. Ausg. 1992. Hamburg 1997. S. 49-79. Hier: S. 53-63. zurück

3 Reiches Anschauungsmaterial hierfür bei: Schmitz, Claudius A. / Kölzer, Brigitte : Einkaufsverhalten im Handel. Ansätze zu einer kundenorientierten Handelsmarketingplanung. München 1996. Hier S. 78-111, 150-226 und besonders 381-385. zurück

4 Sennett, Richard: The Corrosion of Character. New York 1998 [dt. 1998 u.d.T.: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus]. zurück

5 Sohn-Rethel, Alfred: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Frankfurt a.M. 1970. zurück

6 Schelsky, Helmut: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 1975. zurück

7 Gehlen, Arnold: Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat. In: Merkur 18 (1964), H. 5, S. 401-413. zurück

8 Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 75-91. Hier v.a. S. 86-89. zurück

9 Vgl. hierzu Bourdieu, Pierre: Wie eine soziale Klasse entsteht [1987]. In: P. B.: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2. Hg. v. Margareta Steinrücke. Hamburg 1997. S. 102-129. zurück

10 Bourdieus eigene Antwort auf diese Frage ist – offenbar unter dem Eindruck der in Frankreich wirkungsmächtigeren Tradition des für ihn selbst anscheinend attraktiven Konzeptes des kritischen Intellektuellen – weniger pluralistisch und in Teilen geradewegs normativ. Dazu Schwingel, Markus: Bourdieu zur Einführung. Hamburg 1995. S. 133. zurück