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IASLonline Diskussionsforum
Wissenschaftliche Kommunikation in der KOntroverse

Leitung: Herausgeber IASLonline


Georg Jäger

Von Pflicht und Kür im Rezensionswesen

(Hervorgegangen sind die Überlegungen aus Debatten unter den Herausgebern von IASLonline und LiRez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.)


Pflichten einer Rezension

  1. Fundament und Ausgangspunkt des Pflichtenkatalogs einer wissenschaftlichen Rezension ist die Berichtspflicht, wonach die Besprechung dem Leser das Buch vorstellen muß: in seiner Zielsetzung, Anlage (Gliederung, Argumentationslinie) und Ergebnissen. Gesagt werden sollte auch, um welchen Publikationstypus (Fachbuch, Sachbuch; >Laufbahnschrift< oder freie Monographie, Lehrbuch) für welches Publikum (Wissenschaftler, Studierende, breitere Schicht der Interessierten) es sich handelt.

    In einer Situation fortschreitender Unübersichtlichkeit, in der wir uns nurmehr Ausschnitte der Fachdiskussion selbständig aneignen können, ist die Berichtspflicht von großer Bedeutung und Verantwortung: Sie schafft einen Informationsstandard, der nicht mehr primär auf der Lektüre der Literatur selbst beruht.

    Eine Besprechung ist verfehlt, wenn man Ende zwar weiß, was der Rezensent von dem in Rede stehenden Problem hält, es aber im Ungefähren bleibt, was in dem besprochenen Werk steht. In manchen Fällen konzipiert der Rezensent ein ganz anderes Werk, das er sich statt des zu rezensierenden Opus gewünscht hätte.

  2. Vom Bericht zur Wertung führt oft eine kritische Reflexion des methodischen Vorgehens und / oder Bemerkungen zu den herangezogenen Quellen, zu ihrer Auswertung und Kritik. Das methodische Vorgehen sollte charakterisiert und vor dem aktuellen Horizont der Methodendiskussion auch gewertet werden. Eine Arbeit, die sich methodisch nicht ausweist, ist vor Methodenkritik nicht etwa geschützt – eher gilt es hier genau hinzusehen. Quellenkritik ist vor allem bei historischen Arbeiten angesagt, kann aber auch die philologische Grundlage (herangezogene Ausgaben etc.) betreffen.

  3. Die Pflicht der Wertung hat mehrere Dimensionen: Zunächst ist das Werk an seinen eigenen Vorgaben (Zielsetzung, Hypothesen) zu messen. In einem weiteren Schritt sind die Vorgaben des zu rezensierenden Werkes in den Kontext der einschlägigen Fachdiskussion (Erkenntnis-, Problemstand) zu stellen. Darüber hinaus kann gefragt werden, wie sich die erbrachten Resultate vor dem Hintergrund der – konstitutiv zu knappen – wissenschaftlichen Ressourcen eines Faches oder einer Fachrichtung ausnehmen. Nicht jede Schließung einer >Forschungslücke< ist des darob betriebenen Aufwandes wert.

  4. Da jede Arbeit ein Ereignis in der Fachkommunikation ist, muß das rezensierte Werk schließlich zumindest annäherungsweise im Fachdiskurs verortet werden. Das ist in >weichen Disziplinen< etwas schwierig, läßt sich jedoch operationalisieren in Fragen wie: Auf welches fachwissenschaftliche Problem antwortet die Studie? Steht sie in Kontinuität zu früheren Arbeiten, denen sie sich (differenzierend, weiterführend oder nur bestätigend und iterierend) anschließt? Oder eröffnet sie allererst einen Diskussionsraum?

    Der Rezesent möge sich selbst fragen, welche fachlichen Anschlußkommunikationen er als angemessen imaginiert. An dieser Stelle kann die Besprechung einen performativen und prospektiven Charakter annehmen, d.h. ergänzende oder weiterführende Fragestellungen anregen.

Über diese Punkte wird man sich einig werden. Auch darüber, daß Kurzrezensionen vor allem der Berichtspflicht genügen sollten. Die Erfahrung von IASLonline zeigt, daß längere Besprechungen zu selbständigen Forschungbeiträgen werden, wenn sie alle weiteren Punkte aufnehmen. IASLonline pflegt diese Textsorte.


Sammelwerke

Bevor ich zur Kür komme, einige Worte zur Rezension von Sammelwerken: Sie werden zum Problem, je stärker sie sich in einer >Buchbindersynthese< erschöpfen. Soll man sie überhaupt besprechen, zusammenfassend, auf die wichtigen (gelungenen, weiterführenden, innovativen) Beiträge beschränkt oder Beitrag für Beitrag? Wer an Problemzusammenhängen und Argumenten interessiert ist, wird nur den gedanklichen Gehalt extrahiert wissen und vom umliegenden >Füllmaterial<, wie es die Maschinerie von Tagungen generiert, verschont bleiben wollen. Die Umfangsrestriktionen, die der Druck mit sich brachte, kamen diesem Gedanken entgegen. Solange Rezensionen in IASL gedruckt wurden, ist die Redaktion nach dieser Devise verfahren.

Aber es war schwierig sie durchzusetzen und durchzuhalten. Kann man vom Rezensenten erwarten, daß er nachholt, was Tagungsleiter und Herausgeber versäumt haben: ein Problemfeld zu strukturieren, darin die Beiträge zu verorten und argumentativ aufeinander zu beziehen? Wer wird den Rezensenten nicht loben, der es tut? Aber weder kann man ihm die Arbeit zumuten, noch läßt sich das nötige (oft disziplinübergreifende) Wissen immer voraussetzen.

Umfangsbeschränkungen fallen bei der E-Publikation weg. Es ist jetzt durchaus denkbar (und wird auch zuweilen so praktiziert), daß Beitrag für Beitrag vorgestellt und kurz charakterisiert werden. Die vollständige Lektüre einer solchen Besprechung wird nur auf sich nehmen, wer ein besonderes Interesse am Gegenstand mitbringt. Doch ergibt sich ein Mehrwert für ein zerstreutes Interesse: Wenn Zwischenüberschriften und eine (intern verlinkte) Inhaltsangabe dem Leser die Orientierung erleichtern, sollte er mit geringer Mühe das Korn im Stroh finden. Niemand kann voraussehen, was andere Leser heute und denselben Leser morgen interessiert und was sie inspirieren mag! (Hier hilft nur sich dumm stellen: Bibliographen, die Quellen erschließen, verzeichnen oft Dinge, die vor dem aktuellen Problemhorizont keinerlei Informationswert haben.)


Feuilletonisierung

Die Kür setzt sich aus freien Darstellungsformen zusammen, die bei einer Rezension, anders als im Kunstlaufen, mit dem Pflichtteil zusammen in einem Text realisiert werden. Da diese Ausdruckselemente zu den Pflichtaufgaben quer stehen, kommt es zu ständigen Reibungen. Worin bestehen diese Elemente?

Sie setzen sich zusammen aus Stilmitteln, die dem Autor erlauben, sich als Persönlichkeit, mit seinen Meinungen, Stimmungen und Vorlieben, im Text auszudrücken, und die darauf abzielen, ein Interesse am Text zu wecken, das über die fachliche Information hinausgeht. Ironie und Sarkasmus, Interjektionen, rhetorische Fragen oder Wendungen an den Leser sind einige solcher Stilmittel. Man spricht von >Feuilletonisierung<, weil sich das Feuilleton der Presse solcher Mittel bedient, um einen weiteren und gemischten Publikumskreis anzusprechen. Wenn in wissenschaftliche Rezensionen ein >feuilletonistischer Ton< spürbar wird, erhalten die Texte Momente einer Inszenierung oder eines Events, es kommt Emotionalität und Kommunikativität, mit einem Wort: Leben in sie.

In der strengen Zucht wissenschaftlicher Kommunikation ist dies alles als Subjektives ausgeschlossen, gemäß der systemtheoretischen Einsicht: Personen (Menschen, Individuen) sind nicht Teil der wissenschaftlichen Kommunikation, sonder gehören deren Umwelt an! In diesem Sinn heißt >Feuilletonisierung<, mit der Grenze zwischen der Wissenschaft und ihren Umwelten (wohin Menschen ebenso gehören wie die Bereiche der Bildung, Wirtschaft, Politik usw.) spielerisch umzugehen, ohne sie zu überschreiten und einen Systemwechsel zu vollziehen. Systemtheoretisch gesprochen, findet mit der >Feuilletonisierung< ein re-entry statt: Die Unterscheidung des wissenschaftlichen Systems von seiner Umwelt wird in dessen eigene Kommunikation hineinkopiert.

Bringt ein Rezensent persönliche Züge in den Text, provoziert er persönliche Reaktionen anderer, des rezensierten Autors oder der Leser: Der Text hat das Zeug zum Streit. In einem solche Streit, für den sich Rezensionen auf Grund ihrer expliziten Wertungen anbieten, können harte Urteile fallen. Eine Leistung z.B. als >entbehrlich< und >überflüssig< für die Wissenschaft zu kennzeichnen, ist m.E. legitim. Was die Ethik wissenschaftlicher Kommunikation jedoch ausschließt, sind gänzlich auf das Persönliche des Urhebers zielende Werturteile. Wenn Rezensent feststellt, daß in einer Untersuchung etwas versäumt wurde, darf er diesen Umstand nicht als >Gedankenlosigkeit< oder >Geistesschwäche<, >Bequemlichkeit< oder >Faulheit< der Individualität des Wissenschaftlers zurechnen. Ein bekannter Grenzfall ist das Attribut "naiv", denn selbst dann, wenn es eindeutig auf den Text referiert, lenkt es zurück auf die geistige Leistungsfähigkeit dessen, der diesen Text verantwortet. Da hier Grenzen – Systemgrenzen zwischen der Wissenschaft und ihrer Umwelt – konstitutiv im Spiel sind, werden sie mit berufsethischen Maximen gestützt.

Eine derartige >Feuilletonisierung< hat den Vorteil, Leser anzusprechen, die nicht allein oder primär an der fachlichen Information interessiert sind, Auseinandersetzungen anzuregen, und dies durchaus auch auf persönlicher Ebene, und somit eine Sache in der engeren wie weiteren Öffentlichkeit interessant zu machen. Sie dient somit der aufmerksamkeitsgewinnenden Darstellung der Wissenschaft und der erfolgreichen Kommunikation ihrer Resultate im Fach und über Fachgrenzen hinaus. Schlimm für wissenschaftliche Kommunikation wäre es, wenn die >Feuilletonisierung< den fachlichen Informationsgehalt beeinträchtigen würde. Das Feuilleton der großen Tageszeitungen belegt, daß dies nicht (zumindest nicht notwendigerweise) der Fall ist. Umgekehrt ist das Schlimmste, was der Wissenschaft in der Innen- wie Außendarstellung widerfahren kann: die Verbreitung von Langeweile. Ohne Anschlußkommunikation keine Kommunikation!

Über das >Was< der Kommunikation, das fachliche Wissen, verfügen Wissenschaftler, in Bezug auf das >Wie< der Kommunikation, ihre Darstellungsform oder Mitteilungsseite, haben sie noch viel zu lernen. Das Feuilleton der Presse ist eine gute Schule des Schreibens von Sachtexten. IASLonline hat daraus einige Folgerungen für die Redaktion von Rezensionen gezogen: Wir orientieren den Leser durch Überschriften und Zwischenüberschriften, brechen längere Passagen durch Absätze auf, so daß der Leser den Text bequem am Bildschirm erfassen kann ("scannability"). Eine >Feuilletonisierung< des Schreibstils wird von der Redaktion nicht betrieben; wir setzen jedoch keine engen Grenzen und beobachten, daß die Netzkommunikation zu einer freieren und >frecheren<, knapperen und pointierteren Schreibhaltung animiert – und das hat ab und an eine, durchaus auch persönliche Kontroverse zur Folge.


Prof. Dr. Georg Jäger
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 28.12.2001
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